"Das beste Mittel gegen falsche Nachrichten sind immer noch gut recherchierte, verlässliche Nachrichten." Mai Thi Nguyen-Kim
Foto: Droemer-Knaur / Thomas Duffé

Binnen weniger Jahre hat es Mai Thi Nguyen-Kim mit ihren vielfach ausgezeichneten Youtube-Videos geschafft, zu einer der bekanntesten und wichtigsten Stimmen des deutschen Wissenschaftsjournalismus zu werden. In der Corona-Krise ist das Publikum ihres Kanals "maiLab", das Teil des Online-Content-Netzwerk der ARD und des ZDF ist, weiter stark angewachsen. Daneben moderiert die promovierte Chemikerin unter anderem auch noch das TV-Wissenschaftsmagazin "Quarks" des WDR.

STANDARD: Durch die Corona-Krise hat nicht nur die Wissenschaft, sondern auch der Wissenschaftsjournalismus an Bedeutung und öffentlicher Wahrnehmung gewonnen. Ihre Videos sind seitdem millionenfach angeklickt worden. Wie haben Sie diese letzten Wochen und Monate erlebt?

Nguyen-Kim: Die waren wegen der Pandemie natürlich in jeder Hinsicht außergewöhnlich. Einer der wenigen erfreulichen Nebeneffekte war das sehr viel größere Interesse für Wissenschaft als sonst. Zugleich hat sich aber auch die eigene Rolle ein wenig gewandelt – von der Wissenschaftskommunikatorin stärker hin zur Wissenschaftsjournalistin.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Nguyen-Kim: Ein großer Teil unseres Jobs ist eine Art Dolmetscherfunktion, indem wir wissenschaftliche Erkenntnisse übersetzen. Unser Verhältnis zur Wissenschaft ist damit im Normalfall ein anderes als das von Politikjournalisten zu Politik. Von denen würde sich keiner als Dolmetscher von Politikern sehen, sondern da geht es um das kritische Hinterfragen. Das steht beim Wissenschaftsjournalismus im Normalfall nicht im Vordergrund, weil Wissenschaft selten so kontrovers ist. Da aber jetzt Virologen und andere Forscher ständig selbst in den Medien waren und zum Teil auch umstrittene Aussagen tätigten, hat sich auch unsere Rolle verändert. Wir sind in der Krise viel stärker gefordert, diese Aussagen der Wissenschafter einzuordnen und zu hinterfragen …

STANDARD: … wie Sie das zuletzt etwa auch mit der umstrittenen Studie des deutschen Virologen Christian Drosten gemacht haben.

Nguyen-Kim: Genau. Wobei Drosten diese Studie bereits selbst gut eingeordnet hat, indem er etwa sagte, dass wir im Zusammenhang mit Kindern und Covid-19 nicht genug Daten haben. Drosten hat sich einen Aspekt angesehen, der für ihn erforschbar war – nämlich den der Viruslast. Weil Drosten aber nicht nur einer der führenden Coronaviren-Forscher ist, sondern mit seinem hervorragenden Podcast auch sehr bekannt wurde, hat die Studie ein Gewicht bekommen, das sie meines Erachtens nicht unbedingt hat. Sie liefert ein Puzzleteil zur Frage der Rolle von Kindern im Pandemiegeschehen, aber nicht viel mehr. Studien von Wissenschaftern, die besonders prominent und in den Medien präsent sind, sind ja nicht automatisch immer auch besonders relevant.

STANDARD: Wurde Drosten also in erster Linie Opfer seiner Prominenz?

Nguyen-Kim: Die spielte insbesondere in der "Bild"-Kampagne gegen ihn sicher eine wichtige Rolle. Herrn Dosten ist es zweifellos gelungen, dass man Virologie mit einem Gesicht, mit einer Person verbinden kann. Und wenn man Menschen mit trockenen wissenschaftlichen Fakten erreichen will, hilft es im Normalfall, das als Person zu tun. Die Schattenseite ist, dass es da zu einer Art Personenkult kommen kann, der Drosten laut eigenen Angaben schon länger mulmig war. Und mit der Kampagne der "Bild" gegen ihn ist das dann völlig aus dem Ruder gelaufen.

maiLab

STANDARD: Auch Sie sind dank Ihrer Videos und TV-Sendungen sehr bekannt, und Sie sind in der Corona-Krise angefeindet worden. Wie gehen Sie damit um?

Nguyen-Kim: In meinem Fall ist das Teil meines Jobs als Wissenschaftskommunikatorin und Youtuberin. Mir ist klar, dass ich eine öffentliche Person bin, was bei Wissenschaftern, die sich in die Öffentlichkeit begeben, so nicht unbedingt der Fall ist. Manchmal wird der Rummel natürlich auch mir zu viel. Ich schaffe es aber relativ gut, mich für einige Zeit wieder ganz aus Social Media zurückzuziehen und nichts zu lesen, was über mich gepostet wird. Ich denke mir aber manchmal, dass es gut wäre, schon in der Schule zu lernen, wie man sich in Kommentarforen verhält und dass hinter den öffentlichen Personen echte Menschen mit Privatsphäre stehen.

STANDARD: Sie sind mit "maiLab" auf Youtube und mit "Quarks" im Fernsehen sowohl in den neuen wie in den traditionellen Medien zu Hause und kennen beide Welten. Wie erleben Sie den medialen Wandel durch das Internet?

Nguyen-Kim: Das Internet ist auf der einen Seite grundsätzlich eine fantastische Sache, und die Tatsache, dass sich jeder eine Stimme verschaffen kann, ist natürlich auch für die Demokratie höchst relevant, insbesondere dort, wo Menschenrechte und die Medien eingeschränkt werden. Auf der anderen Seite spricht man aber auch von der Infodemie analog zur Epidemie oder Pandemie: Fake-News verbreiten sich im Netz ähnlich wie Viren, und sie können ebenfalls ziemlich gefährlich werden.

STANDARD: Überwiegen mittlerweile nicht die Infodemie-Gefahren? Ich denke da etwa an gleich mehrere Studien aus dem Vorjahr, die zeigten, dass auf Youtube die Klimawandelleugner den Ton angeben.

Nguyen-Kim: Das hat meines Erachtens auch damit zu tun, dass die etablierten Medien die sozialen Medien zu lange belächelt haben. In den USA ist man da schon sehr viel weiter: Da gibt es längst ein Riesenangebot an tollen Wissenschaftskanälen auf Youtube. Das ist nicht vergleichbar mit dem, was wir haben. Wenn man sich nur das Angebot im deutschsprachigen Raum anschauen würde, dann wäre das Ungleichgewicht zwischen falscher und verlässlicher Information zum Klimawandel vermutlich noch viel größer.

STANDARD: Wie gehen Sie selbst mit solchen Fake-News und Verschwörungstheorien um?

Nguyen-Kim: Ich vermeide es, auf Verschwörungsvideos zu klicken, und versuche meine Timeline auf Twitter frei von solchen Links zu halten. Ich will diesen Clips nicht auch noch meine Aufmerksamkeit geben. Aber es gibt natürlich Kollegen und Freunde, die diese Sachen teilen, weil sie diese Absurdität nicht allein aushalten oder in bester Absicht davor warnen wollen. Um nicht selbst zum Spreader zu werden, sollte man es aber auf jeden Fall vermeiden, Videos von Attila Hildmann oder Xavier Naidoo nur so als Spaß zu verbreiten.

STANDARD: Sollten die Medien diesen Unsinn besser auch ganz ignorieren? Oder geht das gar nicht mehr, weil sie ihre traditionelle Rolle als "Gatekeeper" längst verloren haben?

Nguyen-Kim: Das ist ein schwieriges Thema. Gut wäre es, die Argumente, die zur Desinformation beitragen, zumindest zu kennen, zugleich aber auch ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie viele Leute tatsächlich daran glauben. Die Millionen Zugriffe auf irgendein Verschwörungsvideo bedeuten nicht, dass so viele Menschen den Unsinn auch für wahr halten. Für uns Medienleute liegt die Herausforderung darin, dass wir mehr liefern müssen als zu der Zeit, als die traditionellen Medien – und auch die Wissenschaft – noch mehr Autorität genossen haben. Das beste Mittel gegen falsche Nachrichten sind immer noch gut recherchierte, verlässliche Nachrichten.

STANDARD: Was bedeutet das konkret?

Nguyen-Kim: Dass wir Medienschaffende uns mehr Mühe geben müssen, bestimmte Dinge zu erklären – und immer auch mitzuerklären, wie wir zu diesem Wissen kamen. Es reicht nicht mehr, sich auf irgendeine Autorität zu berufen. Bei vielen Youtubern und auch in meinen Videos ist es üblich, alle Quellen offenzulegen und explizit anzuführen. Wenn man das nicht macht, kriegt man im Netz mittlerweile eine auf den Deckel. Insofern kann ich auch mit dem Begriff "postfaktisch" wenig anfangen, weil die Leute eher im Gegenteil richtig faktenversessen und skeptisch sind. Das ist auch der Grund, warum meine Videos immer länger geworden sind.

STANDARD: Aber es heißt doch auch, dass unsere Aufmerksamkeitsspanne angesichts des Informationsüberflusses immer kürzer wird. Wie passt das zusammen?

Nguyen-Kim: Im ganzen Informationsüberfluss scheint eines Mangelware geworden zu sein: ausführliche und detaillierte Information, die den ganzen Zuspitzungen und Verkürzungen widersteht. Ich denke, man kann den Lesern, Zuhörern und Zuschauern solche detaillierten Informationen ohne weiteres zumuten, und es ist absolut unnötig, die Inhalte für sie – zugespitzt formuliert – "runterzudummen", weil die Aufmerksamkeitsspanne angeblich so kurz ist. (Klaus Taschwer, 11.6.2020)