Abstand halten, Ohren auf und an etwas Schönes denken: Liederabend von Günther Groissböck an der Wiener Staatsoper, abgehalten am 8. Juni.

Foto: Michael Pöhn/Wiener Staatsoper

Ein kleines Wunder ist geschehen: Es hat einer ebenso heimtückischen wie ökonomisch ruinösen Pandemie bedurft, um die heimische Kultur mit ihren Nutznießern zu versöhnen. Kaum waren Sängern, Schauspielern und anderen Leistungsträgern des Unterhaltungsgewerbes ihre Verdienstmöglichkeiten weggebrochen, wurden Österreichs Kulturschaffende von Wogen des Mitgefühls übergossen. Deren Wasser schmeckt bis heute angemessen salzig. Es unterscheidet sich in nichts von den Tränen der Krokodile.

Selbst hartgesottene Feuilletonisten legten die Stirn in Falten. Alle saßen (und sitzen) wegen Covid-19 miteinander in ein- und demselben Quarantäneboot: die Spielleute gemeinsam mit denjenigen, die an ihnen von Berufswegen für gewöhnlich kein gutes Haar lassen. Dabei ist kein anderes Metier in sich zerfallener als dasjenige der schönen Künste. An der Sonne der Kultur wärmen sich auch all die Mühseligen und Beladenen. Letzteren wird das Wort "Kultur" oft so lange vorgekaut, bis sie gar nicht mehr merken, wie abgeschmackt die Früchte sind, die ihnen die Kulturindustrie häufig zudenkt.

Nach umsichtiger Neuregelung der Kompensationsleistungen, mit denen der Staat seine musisch Bediensteten vor dem Bankrott bewahrt, scheint es indessen an der Zeit, den Schleier ungetrübter Harmonie zu zerreißen. Allen Maßnahmen, die die neue Kulturstaatssekretärin ergriffen hat, liegt das untadelige Bestreben zugrunde, Schaden von den betroffenen Künstlerinnen und Künstlern abzuwenden. Die Lage ist für die meisten von ihnen auch in pandemielosen Zeiten prekär genug.

Die gute Gebirgsluft

Umso augenfälliger erscheint der Unwille, der angeblich heiß geliebten Kultur mehr zu widmen als den Hinweis, sie sei so umwegrentabel wie die gute Gebirgsluft zum Atmen. Die Versicherung, man sei einander die Wahrung kultureller Besitztümer schuldig, weckt zuverlässig die Neigung, Plattitüden von sich zu geben. Heimische "Fußball-Legenden" finden sich dann flugs mit anderen "Repräsentanten der Zivilgesellschaft" zum Austausch von Leerformeln zusammen. Alle bekunden, "wie zentral Kunst und Kultur für Österreich" seien. So allgemein lässt sich das wohl auch über den Breitensport sagen.

Der Zweck scheint erfüllt, Prominente werfen sich für die "gute Sache" der Kultur in die Bresche. So gut gesinnt tun vornehmlich diejenigen, denen Kunst und Kultur vor allem dann zupass kommen, so lange deren Erzeugnisse des Trotzes und der Widersetzlichkeit entbehren.

Kunst reflektiert längst nicht mehr nur die gepeinigte Bürgerseele. Sie enthält, ihrer Idee nach, genügend Hinweise und Vorschläge, wie eine Welt, die den Schwächeren unerträgliche Lasten aufbürdet, menschenwürdig einzurichten sei. Sie schleppt, für staatssymbolische Zwecke dienstbar gemacht, aber auch Schlacken mit sich herum. In Österreich tröstet der schöne Schein der Kunst nur zu durchschaubar über den Verlust allgemeiner Geltung hinweg. "Barock" mutet daher das Prinzip einer Theatralität an, die noch immer auf die Wiedergabe eines ominösen Ganzen abzielt. Österreich liegt solcherart einem Erdteil inmitten, der von unsichtbaren Instanzen wie Kaisertum und Gott überwölbt sein soll.

Doch hat sich mittlerweile das Prinzip der Repräsentation, gemünzt auf eine kosmische Ordnung, in die rein nützliche Erwägung des volkswirtschaftlichen Ertrags hinübergerettet. Den sollen z.B. Festspiele wie die Salzburger für eine Republik erbringen, die auf sie wirtschaftlich angewiesen ist. Von Gott, Kaiser und Vaterland braucht ja keiner mehr zu sprechen.

Prinzip der Unterhaltung

Kultur schließt sich somit der Industrie an, mit der gemeinsam sie ein Kompositum bildet. Vom Amüsierbetrieb unterscheidet sie sich unter den Bedingungen des Neoliberalismus in Graden. An ihrem Betrieb möchten nicht nur diejenigen teilhaben, die bei der Ausschüttung der Fördermittel häufig durch die Finger schauen. Sie lockt an, indem sie die einen demokratisch mit Unterhaltung versorgt, und sei diese auch noch so dämlich. Die anderen versichern sich durch Kunst und Kultur der eigenen "Wichtigkeit".

Da trifft es sich gut, dass wegen der Pandemie heuer viele, viele Sessel leer bleiben müssen. Was tun mit der Kultur, die doch angeblich so lebensnotwendig sei? Vielleicht weckt das Einhalten des Abstands, das die Pandemie erzwingt, ein allgemeines Bedürfnis nach Reflexion und Kritik. Damit nicht Theodor W. Adornos bitterer Satz wahr werde: "Die Welt ist aus den Fugen, aber die Fugen sind mit träger Masse ausgefüllt." (Ronald Pohl, 12.6.2020)