Nils Pickert wurde 2012 mit etwas bekannt, was vermutlich alle Eltern wollen: seinem Kind Anfeindungen zu ersparen oder ihnen zumindest mit ihm gemeinsam zu begegnen. Pickerts damals fünfjähriger Sohn trug gern Röcke und Kleider, und um ihm den Rücken zu stärken, zog auch sein Vater einen Rock an. So entstand das inzwischen berühmte Foto von einem kleinen Buben in einem pinken Trägerkleid, der mit seinem Papa im Rock eine Straße entlangspaziert. Das Foto wurde zum Internetphänomen, Medien und Blogger griffen die Geschichte auf. Vor kurzem ist das erste Buch von Nils Pickert erschienen, mit dem er zeigen möchte, wie wir Buben darin unterstützen können, mehr sein zu können als das, was man sich noch immer gemeinhin unter einem "typischen Buben" vorstellt.

STANDARD: Sie sind Vater von vier Kindern. Was bedeutet Ihnen der Vatertag?

Nils Pickert: Ich komme aus der DDR, da war Vatertag eher ein Familientag. Väter sind mit ihren Kindern losgezogen, man hat gemeinsam einen Ausflug gemacht. Das fand ich immer gut. Aber hier in Westdeutschland wurde der Vatertag zu einem Gruppenbesäufnis von jungen Männern, die mit Vaterschaft oft rein gar nichts zu tun haben. Wünschen würde ich mir diesen Tag so, wie man ihn in der Schweiz versucht zu installieren: Dass Vaterschaft gefeiert wird von Vätern, die Verantwortung übernehmen und diesen Tag nutzen, um was mit ihren Kindern zu machen. Das würde mir gefallen.

STANDARD: Von den "neuen Vätern" wird schon seit Jahrzehnten gesprochen. Fühlen Sie sich damit angesprochen?

Pickert: Ich bin jetzt 40 geworden, so neu bin ich nicht mehr. Meine älteste Tochter ist 15, als Vater bin ich also auch nicht mehr neu. Aber ja, ich werde immer wieder unter dem Label "neue Vaterschaft" identifiziert. Ich glaube, es ist ein Label, mit dem man sich bemüht zu zeigen, dass Väter jetzt aktiver werden. Aber wir stehen da noch am Anfang. Wir müssen in Vaterschaft mehr sehen als ein "Mitmachen" oder "Aushelfen". Das ist nicht das, was ich als Vaterschaft definiere. Denn es sind ja meine Kinder! Ich war an der Entscheidung für Kinder ja beteiligt, ich wollte sie unbedingt in meinem Leben. In meiner eigenen Familie nur als Aushilfskraft zu gelten, fände ich darum ganz schön krass. Väter müssten sich auch stärker verbieten, dass sie oft als strunzdumm hingestellt werden, so, als seien Männer nicht willens und in der Lage sich zu kümmern.

STANDARD: Sie meinen diese Bilder, wie wir sie öfter in der Werbung sehen, in denen Väter sich höchst patschert bei jeglicher Hausarbeit und Kinderbetreuung anstellen?

Pickert: Genau, der Vater, der den Pizzaboten nicht bezahlen kann, der den Kindern zwei Jacken anzieht, der als kompletter Versager in Sachen Kümmern gilt. Einerseits können und tun Väter mehr. Andererseits tun sie es eben oft auch nicht. Wir geben uns als Gesellschaft offen und gleichberechtigt, aber Worte allein reichen nicht.

Bild nicht mehr verfügbar.

Wie können Väter ihre Söhne darin unterstützen, mehr sein zu können als das, was wir unter "typisch Bub" verstehen?
Foto: Getty Images / Cyndi Monaghan

STANDARD: Sie befassen sich auch damit, wie wir Buben in Geschlechterstereotype drängen. Darüber wird schon lange gesprochen, dass Buben die Bildungsverlierer seien, gar die Opfer der Emanzipation. Wie unterscheidet sich Ihre Position davon?

Pickert: Mein Buch unterscheidet sich durch die Handlungsanweisung, aber nicht in der Diagnose. Diese lautet vielfach: Wir gehen nicht gut mit unseren Buben um, die kommen nicht mehr mit. Als Lösung wird dann präsentiert, dass Jungen wieder Jungen sein dürfen, dass sie nicht verweichlichen sollen, dass sie es schwer hätten, weil das ganze Bildungssystem nur mit Frauen besetzt ist. Ich gehe da in die entgegengesetzte Richtung: Niemand verlangt von Jungs, sich "wie Mädchen" zu verhalten. Vielmehr erwarten wir, dass sie sich konform zu verletzenden und gefühlsarmen Männlichkeitskonzepten verhalten, die ihnen selbst und anderen wehtun und ihnen keinerlei Entfaltungsmöglichkeiten bieten. Das eigentliche Problem ist, dass wir keine Buben aushalten, die weinen, die Trost brauchen, die Lust daran haben, sich zu verschönern. Wir müssen alles ständig kommentieren und abwerten, ihnen sagen, "so sind Buben nicht". Will ein Junge zum Ballett gehen, machen wir ein Problem daraus. Ich will mit meinem Buch Buben weder dazu zwingen, zum Tanzen zu gehen, noch Eltern erzählen, es sei schlecht, dass ihre Jungs Fußball spielen. Ich will einfach klarstellen, dass Ballett genauso gut sein kann wie Rugby und, dass es auch für Buben wichtig ist, auf sich selbst zu achten und in einer Gruppe zurechtzukommen. Denn das sind doch genau die Männer, mit denen wir später Zeit verbringen wollen. Ich würde mir wünschen, dass wir unseren Jungen erlauben, sich zu den Männern zu entwickeln, die wir als Erwachsene gut finden.

STANDARD: Das heißt, wir fördern bei Buben Verhaltensweisen, die sie dann als 18-Jährige plötzlich ablegen sollen, weil sie bei einem erwachsenen Mann als problematisch gelten?

Pickert: Ja, genau. Wir leben inzwischen in einer Gesellschaft, in der wir vieles einfordern, das wir klassischerweise eher Frauen zuschreiben: In einem Team und mit flachen Hierarchien zurechtkommen, Probleme nachhaltig lösen können, sich um sich selbst kümmern können, damit man nicht ausbrennt. Das alles sollte man für die heutige Arbeitswelt mitbringen. Doch gleichzeitig sagen wir ihnen, sie seien keine "richtigen Jungen", wenn sie das alles können. Wir müssen uns von dieser ständigen Bewertung zurückziehen und Raum zum Ausprobieren geben, sodass sie mit Puppen spielen können, auf den Fußballplatz gehen, sich um ihre Freunde und Freundinnen kümmern – ohne dass das ständig kommentiert wird.

STANDARD: Sie schreiben, Gewalt berühre "den dunkelsten Kern der Männlichkeitssozialisation", und erzählen, dass Sie selbst als Kind und Jugendlicher immer wieder zu gewalttätiger Gegenwehr gezwungen wurden. Wie begegnen Sie diesem Thema mit Ihren Kindern?

Pickert: Das ist eine sehr schwierige Sache für mich, weil in meiner Kindheit und Jugend Gewalt leider immer eine Option war. Ich werde zwar nicht mehr gewalttätig, aber es liegt noch immer als Werkzeug in meinem Geist. Meinen Kindern versuche ich klarzumachen, dass sie über körperliche Autonomie verfügen und dass diese Autonomie eines der höchsten Güter ist, die sie haben. Wenn ihre körperliche Autonomie und ihre körperliche Unversehrtheit von irgendjemandem angetastet werden, dann haben sie das Recht, sich dagegen zu wehren. Egal auf welche Art und Weise, und ja – das impliziert auch Gewalt. Ich weiß, das klingt für viele Menschen paradox und falsch, wenn ich sage, dass man eine Form von Gewaltfreiheit nur dann erreichen kann, indem man sich auch das Mittel der Gewalt offenhält. Aber es ist das, was ich als Kind und Jugendlicher erlebt habe. Manchmal wurde ich so drangsaliert, dass ich mich nur wehren konnte, indem ich zurückgeschlagen habe. Ich konnte nicht fliehen, nicht weglaufen. Diese Realität – insbesondere für Jungen – zu leugnen, halte ich für falsch. Wir müssen mit ihnen über Gewalt ins Gespräch kommen.

STANDARD: Wie?

Pickert: Als Vater möchte ich authentisch bleiben. Meine Kinder wissen von meinen Gewalterfahrungen, auch von der Gewalt, die in meiner Familie stattgefunden hat. Sie stellen mir dann auch komplexe und schwer auszuhaltende Fragen: Mein 13-Jähriger hat mich gefragt, wie ich ein normales Verhältnis zu meinen Eltern entwickeln konnte. Ja, das ist eine schwierige Frage, auf die ich nur die Antwort geben konnte, dass mich das sehr viel Kraft gekostet hat. Mehr habe ich nicht. Ich bin da nicht schlauer als andere, ich versuche zu tun, was ich kann, und offenzulegen, wer ich bin. Ich will, dass meine Kinder wissen, wer ich bin, und ich will wissen, wer meine Kinder sind und was sie erleben.

"Ich will, dass meine Kinder wissen, wer ich bin, und ich will wissen, wer meine Kinder sind", sagt Nils Pickert.
Foto: Beltz Verlag / Benne Ochs

STANDARD: Der Umgang mit Gewalt vererbt sich oft, wie sind Sie da rausgekommen?

Pickert: Ich hatte das Glück, dass mein Vater nicht nur ein Vater war, der mich mit Gewalt überzogen hat, sondern auch sehr kümmernd, aufmerksam und liebevoll war. Ich weiß, dass das widersinnig klingt. Aber ich denke, dass viele Männer meine Erfahrung teilen können. Als ich selber Vater geworden bin, habe ich beschlossen, das Beste daraus zu machen. Meinem Vater in den Dingen nachzueifern, die ich gut fand, und die Dinge, die mich als Kind gequält und verletzt haben, abzulehnen. Das ist eine schwierige Aufgabe, aber der wichtigste Schritt ist, zu sehen, dass das ein Problem ist, für das es Hilfe gibt. Und zwar nicht erst dann, wenn es zu spät ist, sondern wenn man merkt, dass diese Gewaltgeschichte Teil von einem ist, dass es ein Muster ist.

STANDARD: Wo sind die Widerstände größer, wenn man wie Sie seine Kinder möglichst frei von Geschlechternormen erziehen will: bei den Erwachsenen oder bei den Kindern?

Pickert: Bei den Erwachsenen. Als mich mein großer Sohn damals, als er fünf war, gebeten hat, mir auch einen Rock anzuziehen, da waren die Fragen der Kinder die leichtesten: Die wollten wissen, was wir tun. Wir sagten: "Ach, heute ist Rock- und Kleidtag – hast du das nicht gewusst?" Und die: "Ach so, na ja, dann ist ja gut." Mit Erwachsenen, die Rollenklischees viel länger erlernt und in sich verhärtet haben, ist das schwieriger. Als mein Junge sich einen Rock angezogen hat, ist das damit verglichen worden, dass er Menschen ins Gesicht spuckt oder ins Gesicht schlägt – das waren die Vergleiche für einen kleinen Fünfjährigen, der sich ein Kleid anzieht. Darüber muss ich nicht mit Kindern ins Gespräch kommen, sondern mit Erwachsenen und fragen: Was zur Hölle ist los mit euch? Ich habe glücklicherweise kein Problem damit, Leute herauszufordern. Doch je älter die Kinder werden, umso mehr muss sich das zu einer Form von Anwaltschaft transformieren, die zurückhaltender wird. Etwa wenn meine größere Tochter ein Hotpants-Verbot an der Schule kassiert. Dann frage ich sie: "Brauchst du mich?" Nur wenn sie mich um Unterstützung bittet, mache ich in der Schule Stress.

STANDARD: Warum engagieren sich noch relativ wenige Männer für die Themen, die Sie bearbeiten?

Pickert: Ich glaube, das hat damit zu tun, dass sie Gleichberechtigung nicht als ihr Projekt betrachten, sondern als "Frauenthema" abtun. Sie verstehen oft nicht, was das mit ihnen zu tun haben sollte. Es ist meine Aufgabe als Autor und Referent, mit Männern darüber ins Gespräch zu kommen. Wenn wir echte Gleichberechtigung erreichen, haben wir am Ende eine Gesellschaft, in der Männer über ihre eigenen Gewalterfahrungen sprechen können, ohne dass man ihnen sagt, "du bist ja kein richtiger Mann". Oder dass es bedeuten würde, dass wir nur aufgrund unseres Geschlechts als Aushilfskraft in der eigenen Familie gelten. Es gibt also ein ureigenes Interesse daran. Männer geben dafür vielleicht ein paar Privilegien ab, aber sie gewinnen Freiheit. Und es wäre doch eine coole Sache, wenn man nicht mehr als der Depp des Monats dasteht, der nicht in der Lage ist, Kinder zu betreuen. Es wäre schön, wenn Männer an einer Gesellschaft arbeiten würden, in der ihnen zugetraut wird, dass sie sich vollwertig um Kinder kümmern.

STANDARD: Aber es gibt doch Vereine wie Väterrechtsvereine, die erkämpfen wollen, sich um ihre Kinder kümmern zu können. Männer, die für andere Obsorgeregelungen kämpfen. Was ist mit denen?

Pickert: Das sind leider häufig die, die nicht nur für sich, sondern auch gegen Frauen agieren – oft aus einer Trennungsgeschichte heraus, weil sie ihre Kinder nicht sehen können. Ich kann das nachvollziehen, es würde mich vernichten, meine Kinder nicht mehr sehen zu können. Aber so sehr ich diese Form des Aktivismus verstehe, so sehr muss ich an der Stelle auch festhalten, dass viele Studien belegen, dass die Positionen von sogenannten Väterrechtlern oft der Einstieg zu verschwörungstheoretischen und rechtsgerichteten Positionen sind. Zudem engagieren sich dafür gerade die Trennungsväter, die in der bestehenden Beziehung kaum Verantwortung übernommen haben und nach der Trennung wütend sind, dass sie sich nicht die Kirschen vom Elternkuchen herauspicken dürfen. Ich bin sehr dafür, dass wir eine Anwaltschaft für Themen haben, die Männer und Buben betreffen, mein Buch versucht genau das. Aber wir müssen dabei ehrlich bleiben und diese Anwaltschaft nicht pauschal gegen Frauen richten. Das kann nicht der Sinn sein und damit möchte ich mich auch nicht gemeinmachen.

STANDARD: Sie schreiben seit Jahren zu Gleichstellungsthemen. Bei welchen Themen wird es richtig kontrovers?

Pickert: Ich kann mich grundsätzlich nicht über mangelnde Aufmerksamkeit zu meinen Texten beklagen, und selbst bei Themen, die ich für eher harmlos halte, finden Leute genug Gründe, sich darüber aufzuregen. Auch in Österreich.

STANDARD: Sind die Reaktionen in anderen Ländern milder?

Pickert: Wenn ich anecke, dann landesspezifisch: Das Schweizer Publikum nimmt einen Text oft zum Anlass, um miteinander zu diskutieren. Das deutsche Publikum belehrt und beschimpft mich gerne. In Österreich zieht man richtig vom Leder. Warum, weiß ich nicht, vielleicht findet das auch nur unter meinen Texten statt, da sollte ich vielleicht mal mit Kolleg*innen darüber reden, aber diese Beobachtung begleitet mich schon länger. (Beate Hausbichler, 14.6.2020)