"Kämpfen wir also gemeinsam für das, was alle wollen, und verschwenden wir unsere Energie nicht im Kampf gegeneinander": Franzobel.

Foto: Wirtschaftsblatt / Günther Peroutka

Mit Rechten reden? Ich habe es oft probiert, aber herausgekommen ist nie etwas. Zum Beispiel mit meinem Vater, der eigentlich ein Linker ist. Pensionierter Chemiewerkmeister. Mehr als vierzig Jahre lang ist er in eine laute, nach faulen Eiern stinkende Fabrik gegangen. Für uns war es normal, dass wir leise sein mussten, weil er Nachtschicht gehabt hatte.

Alle Männer in der Siedlung arbeiteten in der Fabrik, alle auf Schicht. Die Fabrik war großzügig: Gratismilch, einen Werkskindergarten, Sportanlagen, ein Freibad und für die Kinder Sommerferienlager, Weihnachtsgeschenke. Das war in den Siebzigern. Lange Haare, Koteletten und Glockenhosen. Bay City Rollers, Suzi Quatro, Boney M. Alle sahen aus, als kämen sie geradewegs von Woodstock und würden Love and Peace and Flowerpower leben. Überall Poster von Busenmädchen, Frank Zappa und Peter Handke, der ungelesen blieb.

Bereits mein Großvater hatte in derselben Bude, wie die Fabrik genannt wurde, gearbeitet. Damals noch Zwölf-Stunden-Schichten und blutige Arbeiteraufstände. Mein Vater musste im Kampf für bessere Arbeitsbedingungen nicht mehr auf die Straße. Ihm reichte das Parteibuch. Ein bis in die Wolle gefärbter Sozialist, dabei weltoffen, erstaunlich gebildet, kunstinteressiert und so gutherzig, dass er sogar Fliegen aus dem Zimmer trägt.

Und trotzdem sondert er manchmal Sätze aus, die klingen, als käme er gerade von einer Pegida-Kopfwäsche: Die Ausländer passen sich nicht an, werfen Kinder, sind Sozialschmarotzer, potenzielle Terroristen usw. Mit den Ausländern meint er Türken, Syrer, Iraker, Iraner, Ägypter, Pakistani. Sunniten, Schiiten, Aleviten, Ibaditen, Salafisten, Sufis usw. Für ihn alles eins: Moslems.

Denkmäler der Angst

Dabei kennt er keine. Und die wenigen, die er kennt, mag er: türkische Hausmeister, meine kurdische Ex-Freundin, seine bosnischen Nachbarn. Es sind die unbekannten Moslems, die er fürchtet und die ihn zu Aussagen hinreißen, dass die Milch im Kühlschrank grün wird.

Nun tue ich mir schwer, in meinem bald achtzigjährigen Vater einen Rassisten zu sehen. Woher sein Misstrauen? Aus Angst? Angst, dass Muslime an die Macht kommen, die Scharia einführen und den Islam zur Staatsreligion machen? Angst, dass man keinen Alkohol mehr trinken darf, Frauen Kopftücher tragen müssen, in Klassenzimmern der Halbmond hängt?

Selbst besonnene Menschen rasten völlig aus, wenn es um den Islam geht. Schnell sieht man den Untergang des Abendlandes, den Verlust der Kultur. Da gibt es keine integrierten Türken, sondern Hinterwäldler im finstersten Mittelalter. Deshalb war auch das Posen der deutschen Nationalspieler Özil und Gündogan mit dem türkischen Präsidenten ein kleiner Weltuntergang, weil es jene bestätigt, die Leute türkischer Abstammung für nicht integrierbar halten.

Diese Angst ist undifferenziert und übertrieben, aber ist sie unbegründet? Jede deutsche Großstadt hat ihr Little Istanbul. In manchen französischen Städten fühlt man sich wie im Maghreb. Japan hat sich jahrhundertelang abgeschottet, die Mauer der Chinesen wurde nicht als Touristenattraktion gebaut, und auch die Indianer wären besser gefahren, wenn sie die Weißen nie auf ihren Kontinent gelassen hätten. Vielleicht würden die Neandertaler noch existieren, hätten sie sich nicht mit dem Homo sapiens eingelassen. Jede Burg oder Stadtmauer ist ein Denkmal der Angst.

Angst ist immer da

Angst speist den Zulauf zu Identitären, Pegida, Rechten und all den anderen, die versprechen, den Zuzug zu stoppen. Der Angst ist es egal, ob Hunderttausende aus einem Kriegsgebiet an der Grenze stehen, Millionen Klimaflüchtlinge oder niemand. Da zählt auch nicht, dass das Land ohne Einwanderer kollabieren würde.

Die Angst ist immer da, lauert und ist für Argumente unzugänglich. Sie hat nur bedingt mit Inhalten zu tun, speist sich aus dem Gefühl. Deshalb braucht man dem Rechtsruck auch nicht mit Vernunft und Logik kommen. AfD-Wähler, Pegida-Demonstranten, Stammtischdemagogen, Neonazis und anderen rechten Polterern geht es um den Tabubruch, um das Auffälligwerden. Sie wollen gesehen werden. Manchen mangelt es am Urvertrauen, andere haben kein gutes Selbstwertgefühl, aber alle sind verunsichert.

Viele hängen im luftleeren Raum

In einer zunehmend verwirrender und komplexer werdenden Welt suchen sie ihre Identität in der Zugehörigkeit zu einer Nation, in einer gemeinsamen Vergangenheit, einer Gruppe. Den Menschen geht es gut, niemand hungert, sieben Jahrzehnte Frieden, alle sind halbwegs versorgt, und doch hängen viele im luftleeren Raum und sind so unzufrieden, dass sie nur ein gemeinsames Feindbild aufrichtet.

Und dieses Feindbild, jetzt kommt’s, ist austauschbar. Gerade ist es der Islam, es könnte aber auch die Bourgeoisie sein, Russland, Luther, Bayern München oder sonst wer. Juden, Freimaurer, Homosexuelle, Rothaarige, Raucher, Rindfleischesser, Chinesen, Leser, Banker, Punker ... Alle können jederzeit verdächtigt werden, die Vernichtung der bestehenden Ordnung zu betreiben.

Fast jede Gruppe, egal ob links oder rechts, politisch oder religiös, ethnisch, geschlechtlich oder sonst wie definiert, stärkt sich über ein gemeinsames Feindbild. Und das ist austauschbar, ebenso wie die Parolen. Es ist denkbar, dass die Pegida gegen Sojamilch und Tofu marschiert. Für mehr Urlaub oder Freibier, für mehr Autobahn und Atomkraft oder dagegen, sogar für Jesus oder das fliegende Spaghettimonster. Es geht nicht um Inhalte, sondern darum, einer Unzufriedenheit Luft zu machen. Einer Unzufriedenheit, die rational schwer begreifbar ist.

Es fehlen Werte und Ideale

Noch nie ging es den Leuten so gut. Jeder kann sich alles leisten, niemand hungert, jeder wohnt, selbst Urlaube sind finanzierbar, Ärzte sowieso. Die ganze erste Welt gehört zur Klasse der Besitzenden, zur Oberschicht. Wer in Westeuropa oder den USA geboren ist, hat quasi den Jackpot gezogen. Es gibt keine Klassen mehr, nur noch eine: Mittelschicht. Die Einzigen, die noch körperlich arbeiten, sind Einwanderer, und selbst die begreifen sich als unterer Mittelstand. Die neue Arbeiterschaft sitzt in Asien, Afrika, Südamerika, doch mit denen will die Mittelschicht nichts zu tun haben.

Aber sind die Mittelklassemenschen glücklich und dankbar? Nein, sie sind neidisch, ängstlich und voller Hass. Das mag viele Ursachen haben: Der Kapitalismus erzeugt ein defizitäres Gefühl – irgendwas geht immer ab, und sei es nur ein neuartiger Topfreiniger. Irgendwer hat immer mehr, natürlich unverdient. Außerdem fehlen Werte, Ideale.

Wenn sogar die politischen Führer permanent als lächerliche, korrupte, notgeile Dilettanten entlarvt werden, gibt es keine Vorbilder mehr. Der Kaiser war noch gottgleich, ein Churchill, Adenauer oder Kreisky übermenschlich, aber seit Clinton und den Bushs werden die Führer der westlichen Welt immer skurriler und lächerlicher. Sportstars sind gedopt und selbst Künstler irgendwie unauthentisch und verlogen, Schäfchenzähler oder sexueller Übergriffe verdächtigt.

Die Welt steht kopf

Nicht einmal auf die Sprache kann man sich verlassen, die politische Korrektheit versperrt den Rückzug ins gemütliche Klischee. Die ganze Welt steht kopf und der ist obendrein untenrum verdreht. Tradierte Rollenbilder? Verhaltensmuster? Alles böse! Es fehlen verlässliche Werte ebenso wie Utopien.

Zukunftsvorstellungen sind von Katastrophenszenarien geprägt: Klimawandel, Überwachungsstaat, Herrschaft einer künstlichen Intelligenzija, Bayern München wird fünfzig Jahre lang Meister, die Geschlechter werden abgeschafft, Konzerne regieren die Welt, die Erde kollabiert ...

Revolutionen, neue Technologien, politischen Wandel, einen Umbruch hat es immer gegeben, und die Früchte der Verunsicherung waren stets dieselben: Unruhen, Aufstände, Kriege. Wie sich das verhindern lässt? Wie die Welt besser werden kann?

Mit einer banalen, fast biblisch klingenden Weisheit: Tue keinem, was du nicht willst, dass man dir tut, sonst geht es dir wie der bösen Kammerzofe im Märchen von der Gänsemagd, die gefragt wird, wie man eine anmaßende Person bestrafen soll, und, vertrottelt genug, nicht begreift, dass sie damit ihre eigene Sühne festlegt, ein inwendig mit Nägeln beschlagenes Fass fordert, in dem die Missetäterin durch die Gassen geschleift werden soll. Niemand ist für immer oben oder dauernd unten. Schnell steigt einer auf, noch schneller fällt er – so ging es erst der Königstochter, dann der Kammerzofe.

Kreislauf der Aggression

Was wollen alle Menschen? Gesundheit, Sicherheit, Identität! Alles verfügbar. Auch können wir es uns sogar leisten, großzügig zu sein. Und Großzügigkeit ist cooler als verkniffene Pfennigfuchserei. Großzügigkeit beglückt mehr als jede Aktiendividende. Kämpfen wir also gemeinsam für das, was alle wollen, und verschwenden wir unsere Energie nicht im Kampf gegeneinander.

Noch benehmen wir uns wie ein Vater, der seine Kinder schlägt, weil er selbst geschlagen worden ist. Noch sind wir im Kreislauf der Aggression, geben wir die erlittenen Kränkungen, die jeder irgendwann erfahren hat, weiter an den nächstbesten Schwächeren. Wir müssen mehr wie die lange missachtete Königstochter im Märchen von der Gänsemagd sein, die der Kammerzofe ihre selbst ausgedachte Strafe großherzig erlässt.

Wir müssen wieder staunen lernen, Dankbarkeit, Glück im Angesicht der Welt, weil alles beseelt ist. Gehen wir also voran und geben ein positives Vorbild, das ist besser als Missionierung oder Zwang. Der Einwanderer integriert sich eher in einer offenen Gesellschaft als in einer, die ihn ablehnt, was nur zu Rückzug in den alten Wertepanzer führt.

Mit dem AfD-Wähler ist es genauso – je mehr die Gesellschaft ihn ablehnt, desto mehr zieht er sich in seinen kleinen Gedankenbunker zurück. Gehen wir also auf ihn zu, machen wir das Fremde miteinander bekannt. Ob das funktioniert? Nur im Märchen? Probieren Sie es aus, mehr als in einem mit Nägeln besetzten Fass durch die Stadt geschleift zu werden kann schließlich nicht passieren.

Mit Rechten reden hat noch nie etwas gebracht? Ja, aber ich gebe es nicht auf. Mit meinem Vater fange ich an. (Franzobel, 13.6.2020)