Es ist ein großes Glück, dass Christian Baron den Mut hat, sich seiner Geschichte von Scham, Stolz, Angst und Liebe zu stellen – und sie anderen zu öffnen.

Foto: Hans Scherhaufer

Da ist also der Vater, ein Hilfsarbeiter und Proletarier, der säuft, schlägt und prügelt – seine Kinder, die Frau, der er in der Schwangerschaft in den Bauch tritt, wie später auch seiner Tochter, die daraufhin mit ihm bricht und in die USA flieht.

Die Mutter, sie ist vielleicht die eigentliche Heldin in dieser erschütternden wie erbauenden Geschichte, ergibt sich weitgehend diesem Leben aus Erniedrigung und Gewalt, sie ist depressiv, zeigt in einigen Momenten aber eine entwaffnende Empathie und Liebe.

Man ahnt, warum sie einst den Wunsch hatte, Dichterin zu werden. Die Lyrik, die Literatur, das Schreiben sind der Schlüssel in dieser wuchtigen und herzzerreißenden Erzählung von Christian Baron, in der es um nichts anderes geht als um sein Aufwachsen, sein Leben in einer Familie, die manche wohl als "asozial", abgehängt" und "unterschichtig" bezeichnen würden.

Denn der Autor lernt von dieser Empathie, sie zerrt ihn heraus aus diesem Horror in der deutschen Stadt Kaiserslautern – in ein anderes Leben. Er studiert, er schreibt, er wird Journalist. In seinem Buch Ein Mann seiner Klasse (Ullstein) versucht er, zu begreifen, wo er eigentlich herkommt, wie er geworden ist, was er ist – schreibend und nachfühlend.

Zwischentöne und Widersprüche

Anders als Didier Eribons Rückkehr nach Reims lotet Baron, der bei der Berliner Wochenzeitung Freitag arbeitet, sein Aufwachsen ausschließlich erzählend aus. Es gibt keine soziologische Erklärungsmodelle und kaum Reflexionsanstrengungen, auch keinen politisch-ideologischen Überbau, der auf eine allzu klare, womöglich allzu eindimensionale Botschaft und irgendwie eindeutige und erlösende Erklärung hinauslaufen würde.

Die Literatur ist das richtige Mittel der Wahl, um Zwischentöne, Widersprüche und Ambivalenzen deutlich zu machen. Die muss man aushalten können, wenn man sich auf Barons Lebensspuren begibt.

Da gibt es beispielsweise die Szene, als der kleine Christian, nachdem seine Geschwister und er tagelang nichts zu essen bekommen haben, verzweifelt mit den Fingernägeln den Schimmel von der Wand im Kinderzimmer kratzt und isst, um den Hunger zu stillen, während sein Bruder ihn ängstlich beobachtet, weil er befürchtet, Christian könne daran sterben.

Als die Mutter wieder einmal zum Opfer eines Gewaltanfalls ihres Mannes wird, sitzt sie tagelang apathisch auf der Couch. Ihr Sohn Christian tut nichts anderes, als sich zu ihr zu legen, sie schweigend zu umarmen, um sie aus ihrem Zustand wieder erwecken zu können. Was ihm auch gelingt: "Sekunden später kraulte mich eine Hand. Ich hob den Kopf und blickte in Mamas lächelndes Gesicht. Ohne ein Wort zu sagen, stand sie auf, begleitete mich händchenhaltend ins Bett und drückte mir einen Gutenachtkuss auf die Stirn."

An einer anderen Stelle wird Christian ins Krankenhaus gebracht, er spuckt Blut, er wird siebenmal operiert, die Ärzte geben ihn schon fast auf.

Und wer ist es, der bei seinem todkranken Sohn wacht und nicht von seiner Seite rückt? Der Vater, dieses vermeintliche Monster und Scheusal: "Mein Vater war da. Er hatte mir das Leben gerettet. Seine sich mit Rasierwasser vermengende Alkoholfahne duftete für mich tausend Mal besser als jeder Teller Spaghetti Bolognese."

Schmerzhafte Zerrissenheit

Es sind diese Momente im Buch, die den Leser sprachlos zurücklassen, die einen wütend machen, die aber auch von beschwichtigender Kraft sind. Neben der empathischen Aufschlüsselung eines Lebens hat das Buch noch andere Erzählstränge, die nur angedeutet werden.

Christian Baron versucht, sie in seinen vielen Interviews auszuformulieren: So gebe es in Deutschland nur wenige Empathieanstrengungen, sich mit anderen Milieus gesellschaftspolitisch adäquat auseinanderzusetzen. Stattdessen herrschten Vorbehalte und die Tendenz zur sprachlichen Abkanzelung, was sich mitunter Parteien wie der AfD zunutze machen.

Überhaupt sei das Klassen- oder Milieubewusstsein ausgeprägter als man zugeben würde, was Baron an seiner eigenen schmerzhaften Zerrissenheit erklärt. Dann ist da die geringe soziale Durchlässigkeit und die fehlende Unterstützung von Kindern aus sozialschwachen Familien, die seit vielen Jahren in Deutschland kritisiert wird.

Im Deutschlandfunk Kultur sagte Baron: "Ich sehe mich eher als Ausnahme. Ich hätte Einstein sein können und hätte es ohne fremde Hilfe trotzdem nicht geschafft. Wer annimmt, dass jeder, der möchte und sich anstrengt, in Deutschland es schaffen kann zu studieren, der muss ja angesichts der Zahlen annehmen, dass man automatisch oder von Natur aus dümmer ist, wenn man in einem nicht-akademischen Elternhaus geboren wird, als wenn man in einem Haus voller Bücher aufwächst. Das ist eine biologische Argumentation von Erblichkeit von Intelligenz." (Ingo Petz, 13.6.2020)