Es ist die Nacht des 3. auf den 4. November 2020 – die Wahlnacht: Wegen der Corona-Epidemie haben Millionen von Amerikanern, weit über das übliche Maß hinaus, ihre Stimme per Brief abgegeben. In Ohio, einem der Swing States, in denen das Ergebnis meist hauchdünn ausfällt, ist Donald Trump von den großen Fernsehsendern zum Sieger ausgerufen worden. Er kann sich Hoffnungen machen, auch die nächsten vier Jahre im Weißen Haus zu verbringen.

Doch kurz nach Mitternacht folgt die kalte Dusche für den amtierenden Präsidenten: CNN prognostiziert, dass Joe Biden in Pennsylvania, einem der am härtesten umkämpften Wechselwählerstaaten, gewonnen hat. Insgesamt kommt Biden somit auf 283 Wahlmänner und -frauen, 13 mehr als die notwendigen 270. Der Präsident, so erklärt Biden vor jubelnden Anhängern, habe ihn zwar noch nicht angerufen, um zu gratulieren; er hoffe aber, in Kürze von Trump zu hören.

Trump und das Tabu

"Er wird vergeblich warten: Der Anruf wird nie kommen", schreibt der Rechtsgelehrte Lawrence Douglas in einem Buch, in dem er ausmalt, wie Trump ein Tabu brechen könnte.

Seit George Washington auf eine sichere dritte Amtszeit verzichtete, um die Tradition des friedlichen Machtübergangs in einer noch jungen Demokratie zu begründen, haben US-Präsidenten den Staffelstab ohne viel Aufhebens weitergegeben. Unterlegene, die schon nach einer Amtszeit abgewählt wurden – 1980 Jimmy Carter, 1992 George Bush senior –, haben dies zwar bedauert, aber natürlich akzeptiert.

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Abschied oder Begrüßung? Ein Rechtswissenschafter aus Massachusetts glaubt nicht daran, dass Donald Trump nach verlorener Wahl so einfach seinen Abschied nehmen würde.
Foto: Reuters / Yuri Gripas

Ob sich auch Trump in sein Schicksal ergibt, sollte er am 3. November den Kürzeren ziehen, versieht Douglas vom Amherst College Massachusetts mit einem dicken Fragezeichen – und zwar bereits im Titel seiner Abhandlung: Will He Go? (Wird er gehen?).

"Ergebnis anfechten"

Es sei keineswegs sicher, dass der amtierende Präsident die Wahl verliere, schreibt der Autor. Absehbar sei hingegen, wie Trump auf eine Niederlage reagieren würde – zumindest auf eine knappe, die ihm Spielraum für Manöver biete. "Er wird das Ergebnis anfechten." Dass die in über zwei Jahrhunderten erprobten Regeln für ihn nicht unbedingt gelten müssen, mit diesem Gedanken hat Trump schon mehrfach gespielt. Vielleicht werde er sein Amt erst "in fünf Jahren, neun Jahren, 13, 17, 21, 25 oder 29 Jahren verlassen", rief er seinen Fans im Dezember auf einer Kundgebung in Pennsylvania zu. Er sage das nur im Scherz, schob er hinterher, um die Medienleute in den Wahnsinn zu treiben.

Douglas glaubt nicht an einen Scherz. Den Boden für den Bruch mit der Tradition, schreibt er, habe Trump bereits 2016 bereitet: Falls er gegen Hillary Clinton das Nachsehen habe, twitterte er damals, dann nur, weil ihm der Sieg gestohlen werde. Seine Anhänger glaubten es ihm. 84 Prozent der den Republikanern zuneigenden Wähler glaubten, dass massiv betrogen werde. 60 Prozent nahmen Trumps durch nichts belegte Warnung, wonach illegal Eingewanderte in großer Zahl abstimmen würden, für bare Münze.

Bloß 31 Fälle, aber...

Douglas liefert Fakten: Zwischen 2000 und 2014 gab es bei Präsidentschafts- und Kongresswahlen bloß 31 Fälle, in denen sich ein nicht Stimmberechtigter für einen Stimmberechtigten ausgab.

Was Trump 2020 tun könnte, um eine eventuelle Niederlage in einen Triumph umzudeuten? Um seinen Abgang zumindest aufzuschieben, spielt der Jurist fiktive Szenarien durch: In einem bricht der Noch-Amtsinhaber eine internationale Krise vom Zaun, auf die er sich konzentrieren müsse, sodass an eine pünktliche Übergabe der Macht nicht zu denken sei.

Streit um Briefwähler

In einem anderen dreht sich alles um Michigan, Pennsylvania und Wisconsin – um die drei "Rust Belt"-Staaten, ehemalige Industriehochburgen, in denen er 2016 Clinton mit jeweils hauchdünnem Vorsprung besiegte und die diesmal erneut das Zünglein an der Waage sein könnten. In der Wahlnacht liegt er demnach in allen dreien knapp vor Biden, bloß sind da noch längst nicht alle Stimmen von Briefwählern ausgezählt.

Da die Bewohner größerer Städte eher per Post votieren, zumal in Corona-Zeiten, und die Mehrheit der urbanen Wählerinnen und Wähler erfahrungsgemäß den Demokraten den Vorzug gibt, holt Biden in dem Maße auf, wie Briefwählerstimmen ausgezählt werden. Irgendwann hat sich das Blatt in allen drei Staaten gewendet, – was bedeutet, dass Biden der 46. Präsident der Vereinigten Staaten ist. Nun schimpft Trump über Manipulationen im Rostgürtel und besteht darauf, allein das mit Stand Wahlnacht ermittelte (vorläufige) Ergebnis gelten zu lassen.

Michigan, Pennsylvania und Wisconsin

In voller Schärfe wiederholt er einen Verdacht, den er schon jetzt schürt, ohne Beweise zu liefern: Das Briefwählen sei eine Einladung zu Gaunereien. Die konservative Mehrheit in den Parlamenten Michigans, Pennsylvanias und Wisconsins folgt ihm und bescheinigt ihm den angeblichen ersten Platz. Die Gouverneure des Staatentrios, allesamt Demokraten, sehen es anders und bestätigen Bidens Wahlsieg.

Damit, so spinnt der Autor den Faden weiter, gibt es zwei Anwärter, die ab dem 20. Jänner 2021 Anspruch aufs Oval Office er heben. Zwischen beiden Lagern kommt es zu heftigen Zusammenstößen, während Trump in düsteren Tweets gar von einem Bürgerkrieg spricht. Gewiss, räumt Douglas ein, von keinem seiner Szenarien lasse sich sagen, dass es mit einiger Wahrscheinlichkeit eintrete. "Anderseits ist keines völlig unwahrscheinlich." (Frank Herrmann, 13.6.2020)