Die britische Regierung will die im EU-Austrittsvertrag vorgesehene Möglichkeit, die Übergangsfrist für das endgültige Auslaufen aller durch EU-Mitgliedschaft bestehenden Regelungen zu verlängern, nicht wahrnehmen. Das hat der im Londoner Kabinett zuständige Chefverhandler Michael Gove Freitag bei einer Videokonferenz des gemeinsamen Ausschusses mit den Unterhändlern der EU klargemacht.

"Ich habe das formell bestätigt", schrieb Gove auf Twitter, "der Zeitpunkt für eine Verlängerung ist damit vorbei. Wir werden am 1. Jänner 2021 die volle Kontrolle zurückholen und unsere politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit wiedergewinnen."

Ein Bild aus Corona-Vorzeiten: Am Montag sehen sich Boris Johnson und Ursula von der Leyen nur via Internet
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Für die EU nahm zunächst nicht Chefverhandler Michel Barnier, sondern einer der Vizepräsidenten der EU-Kommission, Maros Sefcovic, Stellung: "Nach meiner Einschätzung ist das definitiv das Ende der Debatte" zur Verlängerung. Laut Brexit-Vertrag hätte die britische Regierung bis Juli einen entsprechenden Antrag um Aufschub stellen müssen, um das mit Jahresanfang fixierte Auslaufen des EU-Rechts und der Teilnahme am Binnenmarkt zu stoppen.

Ohne Wenn und Aber ...

Ob in dieser Sache tatsächlich schon das letzte Wort gesprochen ist, wird man aber erst sehen. In der Tat ist die Haltung der Regierung von Premierminister Boris Johnson, wie Gove sie nun bekräftigte, nicht neu. Der Regierungschef hatte seit dem Beschluss zum EU-Austritt im Unterhaus Ende 2019 immer betont, er wolle einen Brexit ohne Wenn und Aber – und dass er nicht im Traum daran denke, auch nur einen Tag länger als nötig im EU-Rechtsraum zu bleiben.

Allerdings: Diese Übergangszeit seit dem formellen Austritt am 31. Jänner 2020, Mitternacht, und dem Auslaufen aller EU-Bindungen sollte laut Vertrag genützt werden, um ein Handelsabkommen zwischen EU und Großbritannien auszuhandeln. Ohne ein solches würden die Briten ab Jahresende den privilegierten Zugang zum EU-Markt verlieren, sämtliche Forschungs- und Förderprogramme wären nichtig. Das Vereinigte Königreich würde auf den Status eines Drittlandes zurückfallen, Zölle und Quotenbeschränkungen für sämtliche Waren und Dienstleistungen wären die Folge.

Nervenschlacht bis Herbst

Das ginge mit noch schlimmeren wirtschaftlichen Einbußen für alle Beteiligten einher, als wenn es eine geordnete Abwicklung der Regelungen – neue Handelserleichterungen – gäbe.

Darüber hat man seit Monaten verhandelt, praktisch ohne Ergebnis, weshalb sich EU-Chefverhandler Barnier zuletzt pessimistisch gezeigt hatte. Insbesondere bei der Fischerei in der Nordsee droht ein regelrechter "Krieg" auf See, wenn es nicht gelingt, neue Fangrechte zu vereinbaren. Zu all dem kommen nun auch noch die schweren Einbrüche durch die Corona-Pandemie. Der britischen Wirtschaft wird von der OECD für 2020 eine Rezession von 11,5 Prozent prognostiziert – mehr als Italien oder Frankreich.

Um all das zu besprechen, hat der Ständige EU-Ratspräsident Charles Michel für Montag eine Videokonferenz mit Johnson angesetzt, an der auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Parlamentspräsident David Sassoli teilnehmen werden. Das Ausschließen der Verlängerung der Übergangsfrist sollte aus Londoner Sicht wohl den Druck erhöhen. Brüssel hatte bisher immer betont, dass es kein Rosinenpicken für die Briten geben wird. Wenn sie im Binnenmarkt bleiben wollen, müssten sie die EU-Regeln beachten. Ob es zum Jahresende ein Abkommen oder den ultimativen "Chaosbrexit" geben wird, weiß man erst im Spätherbst. Johnson und die Regierungschefs könnten im letzten Moment die Notbremse ziehen. (Thomas Mayer, 12.6.2020)