Die aktuelle coronabedingte Wirtschaftskrise hat uns die wirtschaftlichen und sozialen Folgen eines negativen Wirtschaftswachstums drastisch vor Augen geführt. Es ist eine paradoxe Begleiterscheinung, dass gerade in dieser Zeit Postwachstumsfantasien einen gewissen Aufwind verspüren und Rufe nach einer Abkehr von Wirtschaftswachstum bis hin zu einer aktiven staatlichen Politik der Wachstumsprävention lauter werden. Die mediale Präsenz der Postwachstumsbewegung ist in den letzten Monaten stärker geworden, und sogar Bundeskanzler Sebastian Kurz betrachtete es unlängst beim Weltwirtschaftsforum in Davos als erforderlich, dieses Thema anzusprechen.

Auch wenn Postwachstums- und Degrowth-Konzepte realpolitisch ohnehin nicht die geringste Rolle spielen und nur an obskuren Rändern der "Akademia" oder in einschlägigen Foren wirklich ernst genommen werden, sollte diesen "alternativen Theorien" eine evidenzbasierte, empirisch fundierte Sicht gegenübergestellt und auf Probleme einer stagnierenden Wirtschaft hingewiesen werden, die von Wachstumsgegnern üblicherweise vernachlässigt werden.

Die gerne bekrittelte angebliche Ignoranz des "Mainstreams" der Wirtschaftswissenschaft gegenüber ökologischen Problemen ist ein Mythos, der ebenso wenig Substanz aufweist wie die These von der blinden Marktgläubigkeit einer weltweit verschworenen Gemeinschaft neoliberaler Ökonomen. Bereits in Schriften von klassischen Ökonomen wie David Ricardo, John Stuart Mill oder William Stanley Jevons werden umweltökonomische Aspekte betrachtet; die Relevanz ökologischer Themen wurde also nicht erst durch den wegweisenden Stern-Bericht über die ökonomischen Folgen des Klimawandels unterstrichen. Die Bedeutung von Wohlstandsmessung jenseits rein materieller Kriterien, die Notwendigkeit eines stärker qualitativ orientierten Wachstums, um Umweltschäden zu minimieren, und der Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch sind in der Wirtschaftswissenschaft weder neu noch revolutionär.

Es ist aber auch eine wiederkehrende Aufgabe der Ökonomik, auf unangenehme Austauschbeziehungen hinzuweisen. Die Vorstellung einer wachstumslosen Wirtschaft mit niedriger Arbeitslosigkeit, welche Wohlstand und Lebensbedingungen für breite Bevölkerungsschichten verbessert, Armut eliminiert, Verteilungsprobleme löst, sozialen Frieden sicherstellt, gesellschaftliche Weiterentwicklung zulässt, Sozialsysteme und Pensionen finanziert, die überbordenden Staatsschulden stabilisiert und die höchst notwendigen Investitionen in Bildung, Infrastruktur und Umweltschutz ermöglicht, lässt die Konstruktion eines Perpetuum Mobile als vergleichsweise geringe Aufgabe erscheinen.

Enorme Ungleichheiten

Betrachtet man die globale Einkommensverteilung, so sticht die enorme Ungleichheit unmittelbar ins Auge. Zwischen dem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von Luxemburg (112.045 USD) und Burundi (724 USD) liegt ein Faktor von 155. Übersetzt in menschliche Kosten bedeutet das zum Beispiel, dass eine Mutter in Subsahara-Afrika gerade einmal eine Chance von 50 Prozent hat, all ihre Kinder bis zum Alter von fünf Jahren heranwachsen zu sehen; ihre eigene Lebenserwartung beträgt dabei knapp 50 Jahre. Wirtschaftswachstum und das sich daraus ableitende Pro-Kopf-Einkommen sind eben nicht bloße Zahlen, sondern aufs Engste mit den grundlegenden Indikatoren guter Lebensqualität (zum Beispiel medizinische Versorgung, Kindersterblichkeit, Lebenserwartung, Grundschulbildung, Infrastruktur et cetera) verbunden. Weltweite Armut, gemessen am Anteil der Weltbevölkerung mit einem Tageseinkommen von weniger als 1,90 USD pro Kopf, ist über die letzten drei Jahrzehnte von mehr als 42 Prozent auf unter neun Prozent gesunken, und das obwohl die Weltbevölkerung im gleichen Zeitraum von vier auf sechs Milliarden gestiegen ist. Das gilt auch bei alternativen Definitionen von Armut, zum Beispiel basierend auf Tageseinkommen von 3,20 USD oder 5,50 USD pro Kopf. Um diese Erfolgsgeschichte fortzusetzen, wird ein anhaltendes Wirtschaftswachstum erforderlich sein.

Vor diesem Hintergrund erscheint es geradezu absurd, wenn in reichen Ländern, naturgemäß von Proponenten mit einem weit über dem Durchschnitt liegenden Einkommen, ein Wachstumsstopp proklamiert und den Entwicklungsländern ein "anderer Weg" (und damit ein Verharren auf ihrem Entwicklungsniveau) empfohlen wird. Dieser andere Weg wird nicht beschritten werden. Das globale Wirtschaftswachstum der nächsten Jahrzehnte wird zu mehr als zwei Dritteln von den Schwellen- und Entwicklungsländern bestimmt sein (und damit ein noch größerer Anteil des Wachstums des Ressourcenverbrauchs und CO2-Ausstoßes). Deshalb wäre ein asketischer Wachstumsverzicht reicher Länder auch nur von vergleichsweise geringer Bedeutung. Gehen wir aber dennoch der Frage nach, ob sich reiche Länder einen Wachstumsverzicht leisten können und wie ein solches Degrowth-Regime aussehen könnte.

Für die Entwicklung der Arbeitslosenrate spielt das reale Wirtschaftswachstum eine zentrale Rolle. Selbst bei gleichbleibender Bevölkerung erfordert die Aufrechterhaltung einer konstanten Arbeitslosenrate ein Wirtschaftswachstum in Höhe des (arbeitssparenden) Produktivitätsfortschritts. Als Lösung eine Arbeitszeitverkürzung zu propagieren, wie es die Postwachstumsbewegung tut, zeigt einen Mangel an grundlegendem Verständnis für den Unterschied zwischen Wachstums- und Niveaueffekten. Selbst wenn mit einer Arbeitszeitverkürzung eine Reduktion der Arbeitslosigkeit erreicht werden könnte (was angesichts der Erfahrungen in Frankreich bezweifelt werden darf), wäre dies nur ein Einmaleffekt. Solange die (Bevölkerung und) Arbeitsproduktivität wächst, bleibt ein positives Wirtschaftswachstum erforderlich, um ein stetiges Ansteigen der Arbeitslosigkeit zu vermeiden.

Das Wachstum in den Schwellenländern – im Bild der Sojaanbau in Brasilien – wird auch zu einem erhöhten Ressourcenverbrauch und CO2-Ausstoß führen.
Foto: APA/AFP/YASUYOSHI CHIBA

Wachstumsprävention: Gute Idee?

Dies führt uns in das selten explizit gemachte Zentrum der Debatte, nämlich dass bei einer Politik des Nullwachstums Produktivitätsfortschritte verhindert werden müssen, um die Arbeitslosenrate nicht ansteigen zu lassen. Wenden wir uns daher der Frage nach den Bestimmungsfaktoren von Wachstum zu, um uns die Konsequenzen einer Politik der Wachstumsprävention ausmalen zu können.

Ökonomen haben sich aus theoretischer und empirischer Sicht mit den Bestimmungsfaktoren von Wirtschaftswachstum in Entwicklungsländern und industrialisierten Volkswirtschaften seit Jahrzehnten intensiv beschäftigt und dabei die Innovationstätigkeit von Unternehmen und Einzelpersonen als zentrale Triebkraft des technischen Fortschritts und damit des langfristigen Wirtschaftswachstums identifiziert. Diese Einsicht wurde bereits 1942 von Joseph Schumpeter in seiner grundlegenden Arbeit "Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie" dargelegt. Innovative, wachstumsfördernde unternehmerische Tätigkeit erfordert institutionelle Rahmenbedingungen, die sich durch eine hohe Qualität von Bildung, ausreichendes Humankapital, Rechtsstaatlichkeit und den Schutz von Eigentumsrechten auszeichnen.

Daraus leitet sich das wohl gewichtigste Argument gegen eine aktive Politik der Wachstumsprävention ab, würde diese doch letztlich darauf hinauslaufen, Innovationen im weitesten Sinne (von Produktinnovationen bis zur Grundlagenforschung) zu verbieten und die Freiheit von Konsumenten und Unternehmen dramatisch einzuschränken. Solch ein Eingriff wäre so tiefgehend, dass man dabei ohne Übertreibung von einer Abschaffung des marktwirtschaftlichen Systems sprechen kann. Auch die politischen Konsequenzen eines solchen Schritts könnten drastisch ausfallen. Ökonomische Freiheit ist eine notwendige (wenn auch keine hinreichende) Bedingung für politische Freiheit. Im Umkehrschluss: Nullwachstum verlangt die Abschaffung ökonomischer und damit letztlich auch politischer Freiheit und der Werte von modernen liberalen Demokratien.

Man sollte die vielfältige Bedeutung von Wirtschaftswachstum (beziehungsweise dessen Ausbleiben) für die gesellschaftliche Entwicklung nicht unterschätzen. In seinem umfassenden historischen Befund über "Die moralischen Konsequenzen von Wirtschaftswachstum" (2005) kommt der Harvard-Ökonom Benjamin Friedman zu dem Schluss, dass Wohlstand alleine nicht ausreicht; es bedarf einer steten Aufwärtsdynamik und -perspektive, auch in reichen Ländern, um die Errungenschaften einer demokratischen, offenen Gesellschaft nicht aufs Spiel zu setzen.

Nachhaltigkeit geht anders

Führt Wirtschaftswachstum zwangsläufig zur Zerstörung der Umwelt? Dass viele Indikatoren guter Lebensqualität heute besser sind als früher, heißt natürlich nicht, dass alles gut wäre und es keinen umweltpolitischen Handlungsbedarf gäbe. Die systematische Entwicklung und Umsetzung ökologischer Konzepte ist jedoch (zumindest kurzfristig) mit beträchtlichen Kosten verbunden. Der Wachstumseinbruch infolge der letzten Finanz- und Wirtschaftskrise sowie der Corona-Krise hat der Umwelt nicht gutgetan, im Gegenteil: Diese Krisen haben umweltpolitische Themen leider wieder in den Hintergrund gedrängt. Es ist auch kein Zufall, dass es vorwiegend die reichen Länder sind, in denen die Nachfrage nach Umweltqualität und die Philosophie der Nachhaltigkeit zunehmend an Bedeutung gewinnen. Ökologische Verantwortlichkeit ist in Industrieländern zu einem wichtigen Branding und Marketinginstrument von Unternehmen geworden.

Die wachsende Weltbevölkerung und -wirtschaft haben unbestreitbar auch Schattenseiten und stellen die Politik vor Herausforderungen, deren globale Natur neue Formen supranationaler Politik und Zusammenarbeit erforderlich machen wird. Man sollte hier ehrlich sein: Umfassende Lösungskonzepte hat bisher noch niemand anzubieten – in einer radikalen Umstellung des Wirtschaftssystems wird man sie jedoch vergeblich suchen. Wirtschaftspolitik kann allerdings dabei helfen, nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu fördern, gesellschaftliche Kosten von Wachstum zu internalisieren, eine intelligente Besteuerung von Ressourcenverbrauch vorzunehmen, Anreize für saubere Technologien und Recycling zu schaffen und – wo möglich – Wiedergutmachung an der Umwelt zu leisten.

Die dazu erforderlichen Anpassungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen erfordern jedoch keine Abschaffung unseres marktwirtschaftlichen Systems, wie sie mit einer Politik der Wachstumsprävention einhergehen würde. Um ein nachhaltiges Wachstum sicherzustellen, das die ökologischen und sozialen, aber auch die ökonomischen Lebensgrundlagen kommender Generationen erhält und verbessert, bedarf es keiner neuen pseudoautoritären ökonomischen und politischen Utopien, sondern einer intelligenten Politik der kleinen Schritte. Kein Wachstum ist jedenfalls keine Lösung; Postwachstums- und Degrowth-"Theorien" sollten wir hinter uns lassen, bevor sie überhaupt das Licht der realpolitischen Welt erblickt haben. (Harald Badinger, Jesus Crespo Cuaresma, 16.6.2020)

Harald Badinger ist Professor für Volkswirtschaft an der WU Wien und leitet das Institut für Internationale Wirtschaft. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Globalisierung, wirtschaftliche Integration und angewandte Ökonometrie.
Foto: privat
Jesús Crespo Cuaresma ist Professor für Volkswirtschaft an der WU Wien und leitet das Institut für Makroökonomie. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Makroökonomie und angewandte Ökonometrie.
Foto: privat