Lkws im Hafen von Dover.

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London – Die EU will neuen Schub für die Gespräche mit Großbritannien über die künftigen Handelsbeziehungen. "Die EU ist bereit, die Gespräche zu intensivieren, wir stehen rund um die Uhr bereit", schrieb EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen am Montag vor einer Videokonferenz mit dem britischen Premier Boris Johnson auf Twitter. "Lasst uns neue Bewegung in die Verhandlungen bringen."

Die Regierung in London hofft unterdessen im Ringen mit Brüssel um ein Brexit-Anschlussabkommen auf eine Einigung bis Sommerende. Das sagte ein Regierungssprecher am Montag vor Journalisten. Am Nachmittag wollte sich Premierminister Boris Johnson mit EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen, Ratspräsident Charles Michel und Parlamentspräsident David Sassoli per Videokonferenz über den Stand der Gespräche austauschen. Die ersten vier Gesprächsrunden der Unterhändler waren enttäuschend verlaufen. Daher wurden bereits noch einmal intensivierte Verhandlungen bis Ende Juli vereinbart.

Großbritannien war Ende Jänner aus der EU ausgetreten. In einer Übergangsfrist bis zum Jahresende gehört das Land aber noch zum EU-Binnenmarkt und zur Zollunion, sodass sich im Alltag fast noch nichts geändert hat. Gelingt kein Vertrag über die künftigen Beziehungen, könnte es Anfang 2021 zum harten wirtschaftlichen Bruch mit Zöllen und anderen Handelshemmnissen kommen.

ORF-Korrespondentin Eva Pöcksteiner berichtet aus London: Bis Jahresende soll geklärt werden, wie das Verhältnis zwischen Großbritannien und der EU künftig ausschauen wird. Weitere Brexit-Gespräche könnten neue Dynamik in die festgefahrene Situation bringen.
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"No Deal" rückt näher

Johnson ist laut britischen Medienberichten bereit, bei weiterem Stillstand der Verhandlungen einen No-Deal-Brexit zum Jahresende hinzunehmen. Großbritannien werde ab Jänner eine unabhängige Handelsnation werden können, egal was bei den Verhandlungen mit Brüssel geschehe. Eine Verlängerung der Übergangsphase um ein oder zwei Jahre lehnt Johnson kategorisch ab. Die EU-Seite sagt inzwischen, damit sei dieses Thema wohl vom Tisch.

Schon vergangene Woche deutete sich an, dass beide Seiten nun bis Ende Juli noch einmal intensiv verhandeln wollen. Doch sind die Hürden hoch. Die EU bietet ein umfassendes Handelsabkommen mit Zugang zum EU-Markt ohne Zölle und Mengenbegrenzung an, fordert aber dafür gleiche Wettbewerbsbedingungen mit hohen Sozial-, Umwelt- und Verbraucherstandards. Großbritannien will jedoch keine Vorgaben der EU akzeptieren. Weitere wichtige Streitpunkte sind der Zugang von EU-Fischern zu den reichen britischen Fischgründen und die Rolle des Europäischen Gerichtshofs bei Streitigkeiten der Vertragspartner.

Handelsabkommen mit USA

Aus Sicht Großbritanniens könnte die langfristige Bindung an EU-Standards ein weitreichendes Handelsabkommen mit den USA verhindern. Das Versprechen von der Rückkehr zur globalen Handelsnation war zentral für die Brexit-Kampagne. Allerdings sind sich Experten einig, dass ein Abkommen mit Washington der Verlust des EU-Marktzugangs bei Weitem nicht wettgemacht würde.

Ähnlich sieht es bei der Fischerei aus. Sie ist für gerade einmal 0,1 Prozent der Bruttowertschöpfung in Großbritannien verantwortlich. Aber ihre symbolische Bedeutung kann für die einstige Weltmacht zur See kaum überschätzt werden. Zudem steht Johnson im Mai 2021 die erste große Prüfung seit seinem Wahlsieg bevor: die Parlamentswahl in Schottland. Es sind vor allem die Fischer im Nordosten Schottlands, die sich von der Loslösung der gemeinsamen Fischereipolitik zusätzliche Einnahmen versprechen.

Wartezeiten

Die deutsche Wirtschaft warnt eindringlich vor einem Bruch ohne Vertrag. "Ein erschwerter Datenaustausch, die Einführung von Zöllen und die Unterbrechung von Lieferketten nach der Übergangsphase wären wahrscheinlich", erklärte DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben am Freitag. "Definitiv müssten sich die Unternehmen auf unterschiedliche Standards und deutlich längere Abfertigungszeiten für den Transport von Waren an den Grenzen sowie auf Zollanmeldungen gefasst machen."

Die negativen Folgen des Brexits müssten zumindest abgefedert werden. "Es bleibt die Hoffnung, den festgezurrten Gordischen Knoten am Montag gerade in Zeiten der Corona-Krise doch noch etwas zu lockern", meinte Wansleben.

Europaabgeordnete warnten vor der Verhandlungstaktik des britischen Premierministers. "Die Zeit läuft, und die EU darf sich weder zeitlich noch inhaltlich erpressen lassen", erklärte der Vizepräsident des EU-Parlaments, Othmar Karas (ÖVP), am Montag. "Boris Johnson ist ein Zocker. Verantwortungsvolle Politik ist seine Sache nicht – weder gegen die Corona-Epidemie noch gegen einen Hard Brexit", warnte die grüne Delegationsleiterin Monika Vana. "Die EU ist gut beraten, bei diesem Brexit-Poker nicht auf Johnsons Bluff hereinzufallen." (APA, 15.6.2020)