Angela Merkel und Jacques Chirac: Was gestern noch als Geste eines vollendeten Gentlemans gegolten hat, erscheint heute als Ausdruck eines überholten Rollenverständnisses. Man stelle sich vor, Emmanuel Macron würde die deutsche Kanzlerin so begrüßen.

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Die letzten Worte George Floyds sind zum Kampfruf der antirassistischen Proteste der letzten Wochen geworden. Das Skandieren der Worte "I can't breathe" gibt den Protestierenden in Minneapolis, London und Wien eine geeinte und emotional aufgeladene Stimme. Sie sind damit ein Beispiel für das, was der Philosoph Robert Pfaller in seinem neuen Buch Die blitzenden Waffen über die "Macht der Form" schreibt, wenn er feststellt, der Form sei besondere Kraft eigen.

So spekuliert Pfaller darin, ob manche Einsichten ohne wie ein Blitz in unsere Weltwahrnehmung einschlagende Formulierungen überhaupt zu erlangen seien. Pfaller behandelt in seiner Argumentation für die prägnante Form zwar eher Witze und Bonmots. Doch auch Slogans wie jener von "Black Lives Matter" können Ideen Nachdruck verleihen und so zur Sprache der "Erkenntnisgewinnung" werden. Sie sei wirkmächtiger als die nüchterne Sprache der "Erkenntnisverwaltung".

Freiheit des Ausdrucks

Das in Die blitzenden Waffen behandelte Feld ist aber viel weiter, reicht von der Kunst über den Dialekt bis zur Straße als Ort der Begegnung. Pfaller zog zwar zuletzt für das Recht auf einen ungesunden Lebenswandel und "Erwachsenensprache" gegen übermoralische, vegane und turnschuhfitte Zeigefinger ins Feld, doch er plädiert auch für Formen der Höflichkeit wie Türaufhalten. Deftige Worte verwenden zu dürfen ist ihm genauso wichtig wie ein Kompliment machen zu können. Das ist weniger Widerspruch, als es auf den ersten Blick scheint. Es geht Pfaller jeweils um die Freiheit, die solche Ausdrucksformen für uns Menschen als denkende und soziale Wesen bedeuten.

Denn was er in Zeiten erhöhter Sensibilität etwa für politische Korrektheit bedroht sieht, macht er uns als ein auf vielfältige Weise nützliches Schmiermittel des sozialen Getriebes schmackhaft. Wenn Pfaller also bei althergebrachten Arten des Umgangs miteinander vom "Formenzauber der Kultur" spricht, klingt das verträumter, als er es meint. Nicht immer sind für ihn "Geschlechtergerechtigkeit, Gesundheit oder Sicherheit" ausreichend gute Gründe gegen das Grüßen im Hotel oder Anbieten von Zigaretten. Das kann an falschen Annahmen zu den Motiven dahinter liegen, doch auch im Verkennen der Tragweite der sozialen Wirkung solcher Praktiken. Ihr Verlust schmerzt Pfaller jenseits von Knigge!

Gesellschaft auf dem Spiel

Für das Zusammenleben sei das (Be-)Wahren von Form nämlich grundlegend, macht Pfaller klar. Mit Richard Sennett als Zeuge erklärt er, dass der öffentliche Raum in Europa seit der Renaissance ein Ort gewesen sei, an dem Menschen Rollen spielen. Kommunikation in Form freundlicher Blicke oder von Komplimenten sei daraus folgend Bringschuld aller zivilisierten Verkehrsteilnehmer. Reibung erzeugt soziale Wärme.

Dass solche einst "positiven" Kulturformen der Begegnung mit Fremden heute eher als übergriffig gewertet werden, führt Pfaller auf eine neoliberale Privatisierung unserer Städte zurück, wobei es zu einer Verprivatung der sich dort Aufhaltenden gekommen sei. Zudem führe das Dogma vom ständigen authentischen Ausdruck des Selbst dazu, dass wir schutzlos geworden seien. Kein Wunder, dass wir dünnhäutig agieren.

Jede seiner durchwegs erhellenden Argumentationen sichert Pfaller doppelt und dreifach ab. Bestätigung findet er bei den antiken Philosophen über Ferdinand de Saussure bis zu Slavoj Žižek. So vielfältig ist auch die Anwendungspalette seines Formbegriffs. Spindoktoren, die politischen Programmen eine marktgängige Form überstülpen? Höhlen für Pfaller eine Politik aus, die sich "aus einer Notwendigkeit der Sache" ergibt. Sogar leichtlebigen Gegenständen wie der Mode gibt er tiefen Sinn: "Dort, wo es keine vernünftigen Gründe zum Mitmachen gibt, gibt es auch keine vernünftigen Gründe zum Nichtmitmachen", behauptet er und verweist auf Kants "sittliche Bedeutung von Geselligkeit". Er weiß, warum ein Verliebter sich wegen des Ja zum körperlichen Makel einer Angebeteten als souveräneres ästhetisches Wesen wahrnimmt und umso mehr liebt.

Sackgasse Kunst

Mehr beschäftigt Pfaller aber die Kunst. Auf den Biennalen dieser Welt wird der Professor der Kunstuni Linz gelangweilt dreinblickender Zeuge von "inhaltsschweren Fleißaufgaben", deren Schauwert dem ihnen aufgebürdeten Moralismus unterliege. Besonders stößt ihm "künstlerische Forschung" auf, die, statt sinnliche Erkenntnismöglichkeiten zu generieren, meist bekannte Umstände nur bebildere. Das nehme der Kunst ihr Potenzial als Waffe und Utopie. Form gibt uns nicht zuletzt Freiheit. Es geht um mehr als um hübsche Oberflächen, das zeigt der Band eindrücklich auf. (Michael Wurmitzer, 16.6.2020)