Das Wichtigste lernt man dann so ungefähr in der vierten Sekunde: drüberstehen nämlich. Sich nicht drum scheren, was andere sagen. Wörtlich – oder dann, wenn man ihnen ins Sichtfeld rennt, gern auch nonverbal. Weil die Blicke, die Mienen so beredt sprechen wie der kleine Bub, der neulich hinter oder neben mir am Ufer des Entlastungsgerinnes (vulgo "Neue Donau") saß – und seiner Mutter zwei im Grunde sehr einfache Fragen stellte: "Mama, wieso geht der Mann mit Schuhen ins Wasser?" Und, als die Mutter keine schlüssige Antwort geben konnte: "Mama, ist das ein Verrückter?"

Foto: thomas rottenberg

Konnte die Mutter die erste Frage nicht beantworten, wollte sie es bei der zweiten Frage offensichtlich nicht. Zumindest nicht, solange ich in Hörweite war. Was ja an sich schon die Antwort ist: "Psst, Kevin, nicht so laut! Das ist unhöflich."

Ob und was sie dem Buben dann sagte, nachdem ich weg war? Keine Ahnung. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihrem Sohn nicht plausibel erklären konnte, was da gerade passiert war, ist relativ hoch: Weil sogar Leute mit echtem Naheverhältnis zu Sport, zum Laufen und sogar zu Triathlon mit dem Begriff "Swimrun" genau gar nix anfangen können – nicht einmal wenn man vor ihnen steht und mit Schuhen ins Wasser geht.

Foto: thomas rottenberg

Dabei ist die Sache denkbar einfach: Swimrun ist genau das, was der Name sagt – nur verbaliter halt nicht ganz so oft wiederholt, wie man es dann tut: schwimmen – laufen – schwimmen – laufen – schwimmen – laufen … und so weiter.

Und falls irgendjemand sich jetzt – vielleicht ja auch wegen der Koppeltrainings-Kolumne von letzter Woche – fragt, wie lang die Pausen zwischen den einzelnen Übungen sind: Es gibt beim Swimrun keine Pause. Zumindest im Wettkampf nicht. Es gibt – im Unterschied zu Triathlon, Duathlon oder Aquathlon – auch keine Wechselzone, in der man die Ausrüstung wechselt: Es gilt, alles Equipment ständig "am Mann" (oder natürlich "der Frau") zu haben.

Foto: www.ausdauercoach.at

Dass das – dezent formuliert – ein kleines bisserl seltsam aussieht, ist klar. Aber wie im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern sind es eben fast immer und fast ausschließlich Kinder, die auch laut und deutlich sagen, dass bizarr ist, was bizarr aussieht: Zuerst rennt einer mit "Taucheranzug", Badehaube und Schwimmbrille am Kopf, Handflossen ("Paddles") in der Hand, einem Schaumstoffdings ("Pullbuoy") an der Hüfte und einer orangen Baywatch-Boje ("Safety Buoy") in der Hand bei sommerlichen Temperaturen an ein paar hundert Menschen in Badehose oder Bikini vorbei, steigt dann mit den Laufschuhen ins Wasser, schwimmt ans andere Ufer, krabbelt an Land – und rennt dort weiter, bevor er wieder ins Wasser …: "Mama, ist das ein Verrückter?"

Foto: thomas rottenberg

Die Frage lautet halt, was "verrückt" ist – und wie man "verrückt" definiert: Ist es verrückt, etwas zu tun, was niemandem wehtut oder schadet, aber halt sonst kaum jemand tut? Und, wenn ja: Wie lange ist es dann wo verrückt?

Wie viele Menschen müssen etwas tun, wie viele davon wissen, dass es von "verrückt" zum Freak-Ding und dann zum Nischenevent wird, bis es irgendwann vom Rand- zum Breitenereignis mutiert – und spätestens dann, wenn es mehrheitsfähig ist, von genau den Leuten, die man früher "verrückt" nannte, als "vollkommerzialisierter Mainstream" abgelehnt zu werden?

Foto: thomas rottenberg

Sie wollen Beispiele? Na gut: Was sagten Ihre Eltern, als Sie noch Nächte durchfeierten – und wie sehen Sie das heute bei Ihren Kindern? Aber bleiben wir doch beim Sport: Wie viele Menschen liefen vor 50 Jahren Marathon?

Oder "nur" Halbmarathon? Wie viele Triathleten über die Langdistanz (von -innen brauchen wir gar nicht zu reden) gab es vor 43 Jahren? Und wie viele davon nicht auf Hawaii? Wie viele Skitourengeher traf man vor 20 Jahren im "Backcountry"? Welche Mountainbike-Routen, die heute als "mittel" gelten, wurden vor 15 oder 25 Jahren noch als "unfahrbar" oder "nur für Verrückte" in der Literatur etikettiert. Und apropos Moutainbike: Downhill? Verrückt!

Foto: thomas rottenberg

Swimrun also. "Ist das ein Verrückter?" Wie das auf Schwedisch heißt, weiß ich nicht. Aber dass man die vier Schweden, die 2003 von Sandham nach Utö ein Wettrennen machten, für verrückt hielt, ist naheliegend: Sandham und Utö liegen auf Inseln. Und zwar im Schärengarten von Stockholm. Die Distanz von Sandham nach Utö beträgt 75 Kilometer – und davon sind zehn Kilometer offenes Wasser. Dazwischen liegen, Start und Ziel nicht mitgerechnet, 24 Inseln.

Das Rennen war nicht nur bewältigbar, sondern machte auch noch Spaß. Also wiederholten die vier den Stunt im Jahr darauf. 2005 auch – und 2006 fand der erste "Ötillö" (schwedisch für "von Insel zu Insel", otilloswimrun.com) statt: mit 15 Teams – von denen nur zwei durchkamen.

Foto: thomas rottenberg

15 Jahre später sieht die Sache anders aus: Der Ur-Ötillö (heute geht es in der Gegenrichtung, weil es in Utö zu wenige Hotelbetten gibt) ist auf rund 200 Teilnehmer limitiert. Er ist das Finale einer Wettkampfserie, an der längst Tausende teilnehmen, die sich für das Finale in Schweden qualifizieren wollen. Es gibt konkurrierende Veranstaltungen und Wettkampfreihen – und (zum Glück) auch "zivile" Distanzen. Längst nicht nur in Skandinavien, sondern auf der ganzen Welt.

Foto: thomas rottenberg

Es gibt auch Menschen, für die ein entspannter Swimrun (gibt es dafür überhaupt ein Verb?) genauso Hobbysport ist wie Laufen. Oder Radfahren: ohne Druck, einfach so. Mit Freunden. Oder sogar den Kindern: Meine schwedische Freundin Ida Enstedt etwa, hier im Bild mit ihrem Sohn Milton in der Nähe von Göteborg, organisiert mittlerweile sogar Swimrun-Ausflüge – ähnlich Trail-Gruppenläufen bei uns: Es geht da um Natur, ums Erleben und um Gemeinschaft – im Neo. Verrückt, oder?

Foto: Ida Ensted

Natürlich gibt es längst eigene Ausrüstung. Braucht kein Mensch, meinen Sie? Na dann viel Spaß, wenn Sie mit einem "normalen" Neoprenanzug fünf oder 15 Kilometer am Stück laufen wollen. Wobei schon die Frage, was ein "normaler" Neo ist, nicht ganz so einfach zu beantworten ist: ein Triathlonanzug? Ein Surf-Neo? Oder doch einer zum Raften? Und waren das nicht irgendwann alles einfach Taucheranzüge?

Foto: thomas rottenberg

Wobei das mit dem Neoprenanzug in unseren Breiten ohnehin ein anderes Thema ist als im Norden: Auch wenn es Leute gibt, denen das Wasser in der Neuen Donau auch noch für den Neo zu kalt ist, passt die Temperatur für mich mittlerweile auch fürs Nicht-Neo-Schwimmen, da reicht auch der Tri-Einteiler (der Radpolster im Schritt ist halt unnötig) – auch wenn der weniger Auftrieb hat als der Gummianzug, kann man damit deutlich angenehmer laufen. Auf die wegen der doch nach unten ziehenden Schuhe erlaubten Auftriebshilfen für die Beine möchte ich aber doch nicht verzichten.

Foto: thomas rottenberg

Apropos Schuhe: Schwimmen mit normalen Laufschuhen? Vielleicht sogar gut gedämpften? Das ist wie Rennen auf Geschirr- oder Schultafelschwämmen.

Ganz abgesehen davon, dass Baumwollsocken Ihnen vermutlich die Füße aufscheuern werden. Es gibt längst Spezialschuhe und -socken – reduzierte Trailschuhe tun es aber auch. Dass meine derzeit liebsten Wasserschuhe aus Skandinavien kommen, ist nur beinahe ein Zufall.

Foto: thomas rottenberg

Aber Sie haben natürlich recht: Wer wirklich will, schafft all das auch ohne Spezialklumpert. Das ist eben der Preis fürs Verrücktsein. Aber was, wenn immer mehr Leute mitspielen wollen? Und einer auf die verrückte Idee kommt, statt bei jedem Segment auf der Sportuhr einen neuen Lauf oder eine neue Schwimmeinheit zu starten, ein Programm zu basteln, bei dem man mit einem Knopfdruck von "swim" nach "run" wechseln kann? Und Leute anfangen, ihre privaten Swimruns, ihre Routen zu tracken?

Foto: ©Ötillö/Edholm

Wo ich in diesem Spiel dazukomme? Vor ein paar Jahren luden mich die Ötillös nach Stockholm ein. Startplatz inklusive – aber weder ich noch die einladende Ötillö-Presseagentur wussten damals wirklich, was das bedeutet hätte: Ich war nachträglich verdammt froh, verletzungsbedingt nicht einmal den 15k-Sprint für Freunde und Begleiter angehen zu können: Ich hätte mich und andere gefährdet.

Anmerkung zum Bild: Die Frau, die hier aus dem Wasser gezogen wird, ist eine amerikanische Spitzenschwimmerin, die im Meer – etwa nach der zwölften Insel – einen Schwächeanfall hatte. Das kommt vor. Die Rettungskette funktionierte aber perfekt: Man schwimmt zu zweit und angeleint. Helfer waren sofort da. Und: Die Athletin beendete das Rennen nach einer kurzen Pause aus eigener Kraft.)

Foto: thomas rottenberg

Im Jahr darauf war ich dann bei einem der Ötillö-Events anderswo. Im Engadin. Ich gönnte mir den "Sprint". Eh "nur" – aber für mich trotz spezifischen Trainings mehr als ein Grenzgang.

Und auch wenn mir das richtig Spaß gemacht hatte, ergab es sich seither nicht mehr: Wenn rund um Sie alle auch aufs Rad steigen, Sie Radfahren lieben und Ihre sportlichen Freunde alle triathlonnarrisch sind, geht sich das zeitlich alles irgendwann nimmer aus. Noch dazu, wo es hierzulande kaum Bewerbe und nur eine Handvoll Swimrunner gibt: ein Henne-Ei-Problem.

Foto: Öttilo/Irina Kurmanaeva

Doch Corona hat viel verändert. Wettkämpfe wurden abgesagt oder auf wann auch immer verschoben. Reisen ist unattraktiv oder ungewiss. Die Wettkampf-Rahmenbedingungen sind dort, wo Events stattfinden, zumindest auf absehbare Zeit meist nicht unbedingt ansprechend. Es geht – zumindest mir – auch um das Drumherum, um Feeling & Atmosphäre, um Freunde und Fremde auf und an der Strecke: Ich bin noch immer für einen der großen europäischen Ironmänner im Herbst angemeldet – und der dürfte auch stattfinden. Aber Kopf und Herz sagen: absagen. Oder zumindest auf nächstes Jahr verschieben.

(Anmerkung zum Bild: Dieser Fisch ist ein Reisender und Zuwanderer. Der "Falter"-Tierkolumnist und Biologe Peter Iwaniewicz erklärte mir dazu: "Der Gemeine Sonnenbarsch bzw. Kürbiskernbarsch aka Lepomis gibbosus (lepos = Schuppe, poma = Deckel, gibbosus =bucklig) stammt ursprünglich aus Nordamerika und ist ein Räuber mit hoher Reproduktionsrate, der in neu besiedelten Gebieten einen nicht geringen Druck auf Jung- und Kleinfische ausübt. Eine Verdrängung von einheimischen Arten in den neu besiedelten Gebieten konnte jedoch bisher nicht nachgewiesen werden.")

Foto: thomas rottenberg

Und auch wenn ich dieses "Trainieren, als wäre es für einen Wettkampf" liebe: Irgendein anderer, neuer Reiz fehlte. Und dann – vor etwa drei Wochen – riefen innerhalb einer halben Stunde, aber unabhängig voneinander Andreas Sachs und mein Freund Ed Kramer (ja, der vom Traildog-Running-Laufshop) an: Ob ich Lust auf einen Swimrun hätte. Anfang Juli. Im Ottensteiner Stausee.

Der von Sachs organisierte Backwaterman sei so klein und so ausgelegt, dass er sich mit den Corona-Richtlinien ausgehe – und die Ausrede vom Vorjahr, dass am gleichen Tag der Klagenfurter Ironman stattfände, könne ich mir gleich sparen.

Foto: ©www.backwaterman.at

Ich sagte zweimal Ja. Und sah erst nachher nach, was ich mir da gerade für einen Schuh angezogen hatte: Ed hat uns – als Team – für die Volldistanz angemeldet. Rund 39 Kilometer. Acht davon im Wasser. 18 Lauf- und Schwimmabschnitte. Im kleinen Starterfeld sind auch echte Spitzenathletinnen und -athleten – die wollen ja auch endlich wieder wo antreten: Sogar wenn ich dort Letzter werde, ist das keine Niederlage.

Ob mir da allein schon das Durchkommen nicht zwei Nummern zu groß ist? Vermutlich ja – aber es gibt genau einen Weg, das herauszufinden: starten.

Foto: thomas rottenberg

Und deshalb hörte ich neulich, als ich gerade ins Wasser ging, die Stimme eines kleinen Buben hinter mir: "Mama, ist das ein Verrückter?"

Es hätte nicht viel gefehlt, dass ich mich umgedreht und geantwortet hätte: "Ja, Kevin, das ist ein Verrückter."

Stattdessen fädelte ich meine Finger in die Paddles, rückte die Brille zurecht – und schwamm los.

Weil Verrücktsein manchmal das ist, was einen glücklich macht. (Thomas Rottenberg, 17.6.2020)

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