Was einem echten Österreicher alles ans Gemüt geht: Zum Beispiel dass die lieben Nachbarn jenseits der Brenner-Grenze kein schmackhaftes Schwarzbrot herzustellen vermögen.

Foto: Elmar Gubisch

Allmählich lassen die Menschen ihre Atemschutzmasken fallen, das Leben gewinnt seine respektablen Seiten zurück. Selbst angesäuerter Stubenhocker bemächtigt sich ein sehnsuchtsvolles Gefühl der Weite; zugleich erleiden sie die reinste Höllenqual der Wahl: Wohin nur soll in diesem Sommer die Reise gehen? Soll es Maria Taferl sein, oder lieber Maria Ellend? Brunn im Gesäuse? Lockt die Gnadenmutter in Mariazell, verführt sie die Sommerfrischler womöglich zum günstigen Erwerb verschossener Heiligenbildchen?

Früher, in den beginnenden Wohlstandsjahren der Ära Kreisky, glichen Ferienaufenthalte im Inland gefühlten Niederlagen. Wer konnte, brach mit Sack und Pack gen Italien auf, um sich während vieler Wochen die Haut in einem mehrstufigen, schmerzhaften Prozess gerben zu lassen.

Österreich ist inzwischen das herrlichste Ferienland der Welt, wer wollte da noch ins Ausland? Unsere Bundesministerinnen haben uns während der finsteren Corona-Monate zum Daheimbleiben ermuntert. In meiner Kindheit wirkte unsere schöne Heimat hingegen noch dunkel und ausgesprochen melancholisch.

Mit dem Rücken zur Straße

Die Häuser schienen mit dem Rücken zur Straße gebaut. In Ostösterreich konnte man verschiedentlich noch fingertiefe Einschusslöcher in den Fassaden bewundern. Pensionen warben für sich, indem sie dem Erholungsbedürftigen den Luxus von echtem "Fließwasser" in Aussicht stellten. Dafür las jede Gemeinde laut Auskunft rostiger Schilder "Die Neue Kronen-Zeitung" und trank hektoliterweise "Sinalco".

Eines Sommers – meine Eltern waren unabkömmlich – wurde ich kleiner Babyboomer an der Seite meiner Großtante, einer emeritierten Bäckersfrau, nach Caorle an die nördliche Adria verfrachtet. Dieses Seebad gewann im Nu das Herz meiner Tante: Zusätzlich zur reichlichen Pensionskost wurden an jeder Ecke goldgelbe Schnitzel und knusprige Brathähnchen kredenzt. Das aufbrandende Heimweh verschwand im Nu. Dick und wie eine Fettschwarte glänzend trat ich an der Seite meiner Verwandten die Heimreise nach Wien an. Ein Seufzer der Erleichterung entrang sich der mächtigen Tantenbrust: "Endlich wieder a g‘scheid‘s Schwarzbrot...!" (Ronald Pohl, 17.6.2020)