Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge haben in vielen Belangen nicht die gleichen Chancen wie österreichische Jugendliche.

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Brunn am Gebirge – In einer ruhigen Straße im verschlafenen Brunn am Gebirge steht ein gelbes Haus, darin wohnen neun Mädchen. Eine von ihnen ist Marina (Name geändert, Anm.). "Ich bin fünfzehneinhalb", sagt sie und betont: "Das Halb ist wichtig." Also bald 16. Marina kommt aus Afghanistan und ist ohne ihre Eltern nach Österreich geflüchtet. Heute lebt sie in der WG Birkenallee, einer Mädchenwohngruppe des SOS-Kinderdorf. Sie wird hier genauso betreut wie alle anderen Jugendlichen – und damit hat sie Glück.

Denn unbegleitete minderjährige Asylwerber, die älter als 14 sind, werden in Österreich normalerweise im Zuge der Grundversorgung betreut. Damit gelten für sie andere Standards als für österreichische Jugendliche, die nach Kinder- und Jugendhilfestandards betreut werden. Konkret heißt das, dass die Republik für ihre Betreuung maximal 95 Euro pro Tag bereitstellt, für Jugendliche, die von der Jugendhilfe betreut werden, zahlt sie 150 Euro.

Am Ende hilft die Zivilgesellschaft

Dass Marina dennoch von der Kinder- und Jugendhilfe betreut wird, hat mit ihrer Familie zu tun. Als sie im Jahr 2017 allein nach Österreich flüchtete, war ihr älterer Bruder schon da. Später sind auch ihre Eltern geflüchtet, und die Familie wurde in Österreich wiedervereint. Doch die psychische Belastung war hoch und das Leben in Asylquartieren nicht schön, sagt Marina. Irgendwann waren die Probleme so groß, dass sie die Notbremse zog, mehr möchte sie nicht preisgeben. Sie ging in ein Krisenzentrum und wurde schließlich in die Mädchen-WG vermittelt.

"Bei der Grundversorgung geht es, wie der Name schon sagt, um eine Versorgung der Grundbedürfnisse", sagt Clemens Klingan, Geschäftsleiter beim SOS-Kinderdorf. Die Ungleichbehandlung beginnt schon beim Betreuungsschlüssel: Der sieht in der Grundversorgung einen Vollzeitbetreuer für zehn Jugendliche vor, in der niederösterreichischen Kinder- und Jugendhilfe – es gibt hier Unterschiede von Bundesland zu Bundesland – sind dagegen sechs Vollzeitstellen auf neun Jugendliche vorgeschrieben. Auch die Gruppengröße beträgt in der Jugendhilfe acht bis zehn Jugendliche pro WG, in der Grundversorgung gibt es gar keine Obergrenze. Dinge wie ein zweiwöchiger Sommerurlaub an einem Kärtner See, wie ihn die WG Birkenalle macht, seien in der Grundversorgung "undenkbar", sagt Klingan.

SOS-Kinderdorf und andere NGOs versuchen diese Ungleichbehandlung auszugleichen – mit eigenen Mitteln, die sie aus Spenden lukrieren. "Es bleibt immer an der Zivilgesellschaft hängen, ob etwas passiert oder nicht", sagt Klingan.

Verbesserungen im Regierungsprogramm

Ein weiterer Kritikpunkt Klingans betrifft die Obsorge. Diese übernimmt die Kinder- und Jugendhilfe in Österreich nämlich erst ab dem Zeitpunkt, ab dem geklärt ist, ob Jugendliche zum Asylverfahren zugelassen werden oder nicht. Während des Zulassungsverfahrens, beispielsweise in der Erstaufnahmestelle Traiskirchen, trägt die Obsorge in der Regel niemand. Im April 2020 haben insgesamt neun unbegleitete minderjährige Flüchtlinge einen Asylantrag in Österreich gestellt. "Das System der Kinder- und Jugendhilfe würde das für die paar hundert Jugendlichen pro Jahr locker hergeben", sagt Klingan und meint die volle Obsorgeübernahme ab dem ersten Tag. Diese Forderung hat erst im Februar auch das UN-Kinderhilfswerk Unicef in einem Österreich Report gestellt.

"Schutz und Rechtsstellung von geflüchteten Kindern verbessern" heißt es dementsprechend im türkis-grünen Koalitionsabkommen. Insbesondere für eine "schnelle Obsorge für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge durch die Kinder- und Jugendhilfe" soll demnach gesorgt werden. Man sei beim Thema Obsorge, aber auch beim Thema Angleichung der Betreuungstagsätze bereits in Gesprächen mit dem Koalitionspartner, sagt die grüne Abgeordnete Faika El-Nagashi. Was die ÖVP unter einem "Verbessern" des Status quo versteht, darauf wollte man sich auf Anfrage weder in der Bundespartei, noch im Innenministerium festlegen.

SOS-Kinderdorf hat 2016 die Frage ob eine Schlechterstellung von minderjährigen Asylwerbern gegenüber gleichaltrigen Österreichern überhaupt rechtens ist an Karl Weber, Professor für öffentliches Recht an der Uni Innsbruck und Privatrechtler Michael Ganner weitergegeben. Sie kamen in einem Gutachten zu dem Schluss – und stützten sich dabei auf das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch und die Kinder- und Jugendhilfegesetze – dass die derzeitige Verwaltungspraxis rechtswidrig sei. "Die Gesetzeslage ist eindeutig", schreibt Ganner. "Die Kinder- und Jugendhilfe hat für jeden Minderjährigen in Österreich, der nicht von der eigenen Familie ausreichend betreut wird, die Obsorge zu übernehmen und diese in vollem Umfang auszuüben." Vorraussetzung dafür sei der bloße Aufenthalt im Inland, unabhängig von Staatsbürgerschaft oder Aufenthaltsstatus. Unbegleitete Flüchtlingskinder, die nur im Zuge der Grundversorgung aber nicht vollumfänglich durch die Jugendhilfe betreut werden, dürfte es diesem Urteil nach defakto gar nicht geben.

Keine Lehre für Asylwerber

Marinas Ziel ist es, später einmal Krankenschwester zu werden. Seit 2017 lebt sie in Österreich. In erster Instanz wurde ihr Asylantrag abgelehnt, doch sie hat Berufung eingelegt. "Ohne Reisepass hast du keine Chance", sagt sie. Im Moment geht sie in die Neue Mittelschule in Hinterbrühl. Da sie die Ausbildung zur Krankenschwester erst mit 18 Jahren beginnen kann, will sie bis dahin eine Lehre in einer Druckerei machen. Das Problem wird allerdings sein, dass sie, sofern sie nicht bis dahin einen Schutzstatus bekommt, vom AMS keine Beschäftigungsbewilligung bekommen wird. Seit 2018 dürfen Asylwerber nämlich keine Lehre mehr beginnen. Das hat der Verwaltungsgerichtshof erst vergangenen Monat mit einem Urteil besiegelt.

Von der Ausbildungspflicht bis 18 sind Asylwerber ebenfalls ausdrücklich ausgenommen, "da sie aufgrund ihres Aufenthaltsstatus nicht Zugang zu allen Bildungsangeboten haben", heißt es auf der Regierungshomepage. Marina wird ihren Mittelschulabschluss bald machen, doch für Jugendliche die bei ihrer Ankunft schon älter als 15 Jahre alt sind und daher nicht mehr schulpflichtig, "sieht das österreichische System keinen Weg vor, wie sie zu einem Bildungsabschluss kommen sollen", sagt Klingan.

Marina jedenfalls will einmal für sich selbst sorgen. "Wenn ich etwas will, dann gehe ich arbeiten, und dann kaufe ich mir das", sagt sie. Als Nächstes würde sie gern den Führerschein machen, ein iPhone 11 kaufen und: "Ich will, dass mich das SOS-Kinderdorf weiter beschützt." Am Ende ist sie bei aller Selbstständigkeit dann doch immer noch ein Kind. (Johannes Pucher, 20.6.2020)