Der Wahlkampf der Partei SNS von Präsident Aleksandar Vucic war nicht von Inhalten getragen. Gewinnen wird sie wohl trotzdem.

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Bei vielen klingelt in diesen Tagen das Telefon. Die regierende Fortschrittspartei SNS erkundigt sich bei den serbischen Bürgern, ob sie gedenken, die SNS zu wählen. Wer nicht sofort wild entschlossen dieses Vorhaben bejaht, muss mit einem weiteren Anruf rechnen. Zuweilen kommen die Parteivertreter auch an die Haustür, um sich über die Wahl am Sonntag zu unterhalten. Manche Bürger versprechen dann die Partei zu wählen, weil sie Angst haben, dass ihre Verwandten ihren Job verlieren könnten, wenn sie sich nicht schön brav verhalten. Andere wollen einfach ihre Ruhe haben.

Die meisten serbischen Bürger werden am Sonntag bei den Parlamentswahlen aber freiwillig und aus Überzeugung ihr Kreuzerl bei der Partei machen, die von Staatspräsident Aleksandar Vučić angeführt wird. Der Hauptgrund dafür ist das spürbare Wirtschaftswachstum in den vergangenen Jahren, das im Jahr 2019 – vor der Pandemie – bei über vier Prozent lag.

Schwache und zerstrittene Opposition

Zudem ist die SNS in Serbien fast allmächtig, und viele Menschen profitieren davon, wenn sie sich der Massenpartei anschließen. In Umfragen lag sie zuletzt bei 58 Prozent, aber es können auch über 60 Prozent werden. An zweiter Stelle steht die Sozialistische Partei SPS, ein Überbleibsel aus dem Kommunismus. Die Ex-Partei von Slobodan Milošević kommt auf vielleicht zwölf Prozent. Aber auch die SPS ist keine Oppositionspartei – zumindest bisher war sie immer in den Regierungen vertreten.

Alle anderen Parteien müssen darum kämpfen, überhaupt die Drei-Prozent-Hürde zu schaffen, um ins Parlament zu kommen. Die Wahlen in Serbien sind demnach eher eine Abstimmung darüber, wie sehr die SNS ihre Macht ausgebaut hat, weil die Opposition derart schwach, zerstritten und offenbar nicht in der Lage ist, jene Themen anzusprechen, die für viele Serben wirklich wichtig sind, etwa die extreme Armut auf dem Land oder die schlechte Schulbildung.

Marodes Gesundheitssystem

Einige Oppositionsparteien – etwa die Demokratische Partei oder die rechtsradikale Partei Dveri – nehmen am Urnengang am Sonntag gar nicht erst teil. Sie erklären ihren Boykott damit, dass die Voraussetzungen – freie Medien, eine unabhängige Justiz, ein funktionierendes Parlament – nicht gegeben seien und dass man mitten in einer Pandemie auch nicht riskieren dürfe, sich beim Wählen anzustecken. Tatsächlich entstehen in Serbien immer wieder neue Ansteckungscluster. Das Nachverfolgen der Fälle und entsprechende Maßnahmen funktionieren nicht so gut wie etwa im Nachbarland Kroatien – auch weil das Gesundheitsmanagement marode ist.

Doch nicht nur in Serbien wollte man die Wahlen – die eigentlich im April hätten stattfinden sollen – unbedingt noch im Sommer durchziehen, weil man annimmt, dass die Wirtschaftskrise im Herbst so richtig zu spüren ist. Die Konsequenz dieser politischen Entscheidung, ist, dass es, anders als mit dem Europäischen Parlament besprochen, deswegen nicht zu einer international auch zeitlich umfassenden Wahlbeobachtung gekommen ist. Also werden weder die Parlamentswahlen, noch die Lokalwahlen und die Regionalwahlen in der Vojvodina systematisch beobachtet werden. "Der Europarat hatte eine Beobachtung der Gemeinde- und Regionalwahlen geplant, die jetzt wegen des Wahldatums nicht stattfinden kann", sagt der Leiter des Europaratbüros in Belgrad, Tobias Flessenkemper.

Gewählt wird das Parlament mit 250 Sitzen, aber auf den Wahlplakaten der SNS ist keiner der Kandidaten zu sehen. Die Liste selbst heißt nach dem Chef Aleksandar Vučić, mit dem Zusatz: "Für unsere Kinder". Ähnlich wenig konkret sind auch die Themen. Ein wenig geht es um die Autobahn, die in den Süden gebaut wird, und um Wirtschaftsprojekte, aber von EU-Integration, der Anerkennung des Kosovo oder der Bekämpfung der Korruption ist kaum etwas zu vernehmen.

Parlament hat untergeordnete Rolle

Völlig offen ist auch, wer Premierminister werden könnte. Die bisherige Regierungschefin Ana Brnabić steht jedenfalls nicht auf der Wahlliste. Aber das Parlament spielt ohnehin schon seit Jahren eine untergeordnete Rolle. Denn die Geschicke des Landes mit seinen knapp sieben Millionen Einwohnern werden vom "Chef" gelenkt – dem Präsidenten, der eigentlich laut der Verfassung gar nicht dafür zuständig ist, zu regieren. Seit seinem stetigen Machtausbau ab 2012 hat die SNS es geschafft, sämtliche Institutionen zu dominieren.

Serbien ist heute gut mit Ungarn zu vergleichen, wo ebenfalls eine zentrale Partei großteils die Wirtschaft und staatliche Institutionen kontrolliert und die Mehrheit der Bevölkerung dies begrüßt. Der EU steht Vučić zunehmend skeptisch gegenüber, obwohl natürlich der überwältigende Teil des Handels mit Europa abläuft und und der überwältigende Teil der finanziellen Hilfe aus der EU kommt.

Größter Stimmenanteil seit 1990

Politologen sprechen von einem "hybriden System", in dem es formell eine Demokratie gibt, allerdings informell autokratisch regiert wird und die Macht in einer Person zusammenläuft. Der Leiter des Zentrums für Südosteuropa-Studien in Graz, Florian Bieber, schreibt in seinem jüngsten Buch über den "Aufstieg des Autoritarismus auf dem Westbalkan", dass Serbien heute "weniger demokratisch" sein könnte als die Nachbarstaaten Bosnien-Herzegowina und Kosovo, obwohl diese offiziell am weitesten von der EU entfernt sind.

Während man nach dem Fall des Regimes von Milošević im Jahr 2000 noch von einer fortschreitenden Demokratisierung ausging, ist das Land seit geraumer Zeit in die Gegenrichtung unterwegs. Bieber schreibt über das System Vučić: "Seit der Einführung der Mehrparteienwahlen im Jahr 1990 hat keine Partei einen so großen Stimmenanteil erhalten, und noch nie war die Opposition so unbedeutend und marginalisiert."

Fernsehauftritte des Staatschefs

Zwischen 2013 und 2016 stieg die Zahl der Mitglieder der SNS tatsächlich von 350.000 auf 600.000, damit ist die Mitgliederzahl größer als jene der Kommunistischen Partei vor 1990. Nur neun der 117 Gemeinden haben keine SNS-Mehrheit auf nationaler Ebene. Auf lokaler Ebene gibt es noch einige Bürgerlisten.

Der Politologe Marko Kmezić, ebenfalls von der Universität Graz, spricht von einer "perfekten Maschine der Günstlingswirtschaft", auf der das System der Partei beruhe. Viele Menschen profitieren nur kurzfristig von Sozialleistungen der Partei, aber sie spüren die Unterstützung. So wurden kürzlich in Landgemeinden Leute nur für ein paar Wochen eingestellt und ihnen dann auch Gehälter ausgezahlt.

Und während der Pandemie wurde an alle Bürger umgerechnet 100 Euro ausgezahlt. Für viele auf dem Land ist das enorm viel Geld. Denn das Durchschnittseinkommen in Serbien liegt bei 500 Euro, Ältere auf dem Land haben oft nur 200 Euro zur Verfügung. Diesen Menschen sind die zahlreichen Skandale und Affären in Belgrad egal. Politik erfahren sie vor allem durch die fast täglichen Fernsehauftritte des Präsidenten.

Sendezeit für Regierungspartei

Die NGO Crta, die mit 1700 Leuten die Wahlen beobachten wird, hat analysiert, welche Partei wann wie oft im TV vorkommt. In der Zeit des Ausnahmezustands im April und Mai war die SNS mit 91 Prozent allgegenwärtig. Danach, also ab Mitte Mai, kam auch die Opposition wieder mehr vor – die SNS brauchte etwa 60 Prozent der Sendezeit.

34 Prozent der Berichterstattung in der dritten Maiwoche waren eindeutig im Sinne der Regierung, auch die anderen Parteien, die an den Wahlen teilnehmen, wurden nicht angegriffen, doch die Hälfte der Berichterstattung war negativ, wenn es um jene Parteien ging, die die Wahl boykottieren. Auffällig ist laut Crta auch, dass Vertreter der SNS meist als Subjekte in der Berichterstattung vorkommen – über Vertreter der Opposition werde hingegen meist nur als Objekt berichtet.

Die Pressefreiheit wurde in den vergangenen Jahren immer mehr eingeschränkt. Serbien liegt laut dem Index der Organisation Reporter ohne Grenzen auf Platz 93, regional betrachtet ist die Situation nur in Bulgarien und in Montenegro noch schlechter.

Besonders auffällig ist der hohe Anteil der Fake-News, die verbreitet werden. Kmezić kritisiert den Umgang mit dem Whistleblower Aleksandar Obradović, der dubiose Waffendeals, in die auch der Vater des Innenministers verwickelt war, aufdeckte. Er wurde zuerst festgenommen, kam dann unter Hausarrest und verlor seinen Job. "Die Botschaft an alle, die die Regierungspartei nicht unterstützen ist: Ihr werdet leiden", analysiert Kmezić.

In die Landgemeinden gehen

Während die einen, die die Wahl boykottieren, das künftige Parlament als "illegitim" betrachten, wie etwa die Vizepräsidentin der rechten Partei Dveri, Tamara Kerković, dem STANDARD sagte, meinen andere, dass man es einfach selbst besser werden müsse. Marko Đurišić von der Liste "Vereintes Demokratisches Serbien" etwa hält den Boykott für sinnlos. "Wir sollten besser hinaus in die Landgemeinden gehen und dort eine Struktur aufbauen und den Leuten zeigen, dass es eine Alternative gibt." Auch international wird die Wahl in Serbien als legitim betrachtet werden. (Adelheid Wölfl aus Belgrad, 19.6.2020)