"An welcher Seite des Seils ziehst du?" Präsident Jair Bolsonaro kämpft laut Graffiti-Künstlern in Brasilien an der Seite des Coronavirus.

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Die berühmten Strände Copacabana und Ipanema sind wieder gut besucht. Überall sitzen Menschen in Grüppchen unter Sonnenschirmen, die Volleyballnetze sind gespannt, und ambulante Verkäufer bieten lautstark Eiscreme, Gegrilltes und kaltes Kokoswasser als Erfrischung an. Die Shoppingcenter und die Läden im Stadtzentrum sind so voll wie kurz vor Weihnachten. Es scheint ein ganz normaler Tag in der Touristenmetropole Rio de Janeiro zu sein.

Gleichzeitig durchlebt Brasilien die furchtbarste Tragödie in seiner jüngeren Geschichte. Fast jede Minute stirbt ein Mensch an den Folgen einer Sars-CoV-2-Infektion. In wenigen Tagen werden mehr als eine Million Menschen infiziert sein, und das Virus breitet sich weiter ungebremst aus.

Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro agiert in der Pandemie wie zuvor bei den verheerenden Bränden des Regenwaldes: Leugnen und Verharmlosen. "Wir müssen zur Normalität zurückkehren", postuliert er vor den TV-Kameras. "Es gibt etwas, das mehr wert ist als das Leben. Es ist unsere Freiheit." Für die Familien der Opfer klingt das wie blanker Hohn.

Lockerungen gegen Rat der Ärzte

Rios streng evangelikaler Bürgermeister Marcelo Crivella hat die Öffnung der Stadt verfügt – entgegen dem Rat von Experten. Inzwischen hat das Virus die Armenviertel in Beschlag genommen, in denen rund die Hälfte der Menschen Rios lebt. "Wer stirbt denn an den Folgen der Pandemie? Die Menschen in der Peripherie haben nicht einmal sauberes Wasser, um sich die Hände zu waschen, geschweige denn genug Raum, um sich zu isolieren", sagt Jupiara de Castro, Mitglied im Nationalen Gesundheitsrat CNS.

Gleichzeitig gibt es täglich Meldungen, wie durch Betrug und Korruption beim öffentlichen Gesundheitswesen dringend notwendige Ausrüstung nicht ankommt. De Castro verweist darauf, dass die Mehrheit der an den Folgen des Coronavirus Verstorbenen inzwischen Menschen mit schwarzer Hautfarbe sind, die zu den Ärmsten der Bevölkerung gehören. "Es handelt sich um einen institutionellen Rassismus", sagt sie.

Statistiken massiv geschönt

Am 25. Februar wurde in Brasilien der erste Fall einer Corona-Infektion registriert. Ein Reisender aus São Paulo, der in Italien war, hatte sich infiziert. Inzwischen hat sich das Virus zu einer Zwei-Klassen-Pandemie entwickelt. Wenn sich an der rasanten Ausbreitung nichts ändert, wird Brasilien Ende Juli nach einer Studie der Universität von Washington die USA in der Zahl der Toten überholt haben. Dabei könnte die Dunkelziffer weitaus höher liegen. Wie Medien dokumentieren, wird auf Ärzte Druck ausgeübt, "Atemversagen" oder "Lungenentzündung" als Ursache in den Totenschein einzutragen, damit die offizielle Statistik geschönt wird. Wissenschaftliche Studien kommen zu dem Schluss, dass sich mindestens siebenmal so viele Menschen mit dem Virus infiziert haben und die Todesrate etwa doppelt so hoch sein kann.

Anfang Juni verfügte Bolsonaro eine Manipulation der öffentlichen Statistik. Das Gesundheitsministerium entfernte alle Daten aus dem Netz, die die Entwicklung der vergangenen Monate aufzeigten. Brasiliens Medien reagierten überraschend schnell und schlossen sich zu einem Konsortium zusammen. Seitdem veröffentlichen sie eine parallele Statistik, die auf den Daten der nationalen Gesundheitsbehörden beruht.

Systemrelevante Pastoren empfehlen Umarmungen

Die Pandemie hat sich inzwischen längst zu einem ideologischen Kampf entwickelt. Bolsonaro umgarnt weiter seine Anhänger wie die evangelikalen Kirchen, die er kurzerhand für systemrelevant erklärte. In Gottesdiensten erklären Pastoren, Umarmungen helfen gegen Pandemie. Vor allem in den Armenvierteln wird dem Rat der Pastoren bedingungslos gefolgt. Derweil nutzt Rios Bürgermeister Crivella die Krise zum Wahlkampf und verfügte, dass ein in Rios größtem Armenviertel Rocinha dringend benötigter Computertomograf nicht etwa im örtlichen Hospital, sondern in der Universal-Kirche aufgestellt wird. Crivella ist selbst Pastor dieser evangelikalen Kirche.

Neben den Kirchen ist Umfragen zufolge das Militär inzwischen wieder die Instanz, der die Menschen vertrauen, obwohl die Militärdiktatur (1964 bis 1985) gerade einmal eine Generation her ist. Diese fatale Entwicklung beruht laut Experten auf Desinformation, mangelnder Aufklärung der Verbrechen und der Hilflosigkeit der Menschen in der Krise. Inzwischen besetzen Militärs rund ein Drittel der Regierungsposten. Nach Streit mit Bolsonaro über den Umgang mit der Pandemie schmissen innerhalb von wenigen Wochen zwei Gesundheitsminister, beide Ärzte, das Handtuch. Inzwischen wird das Gesundheitsministerium von General Eduardo Pazuello geführt. (Susann Kreutzmann aus Rio de Janeiro, 18.6.2020)