Klagenfurt – "Verletzte Frauen konnte Ben nicht ertragen. Sie erinnerten ihn an seine Mutter. Deshalb brachte er verletzte Frauen dazu, ihn zu verlassen." Das waren am Donnerstagvormittag die ersten Sätze im Wettlesen um den diesjährigen Bachmann-Preis. Mit einem Auszug aus ihrem Roman "Ü" hat die 1974 geborene Hamburgerin Jasmin Ramadan den Lesereigen der 44. Tage der deutschsprachigen Literatur eröffnet.

Coronabedingt findet die traditionsreiche Veranstaltung heuer vorwiegend digital statt. Die Lesungen der 14 Autorinnen und Autoren wurden vorab aufgenommen und werden zu den gestern ausgelosten Zeiten eingespielt. Die Jury-Diskussionen finden daran anschließend jeweils live statt, allerdings nicht im ORF-Theater in Klagenfurt, sondern per Liveschaltung aus Berlin, Zürich, Wien, Graz und Bamberg. Das funktionierte gleich prächtig und eröffnete in einigen erregten Wortgefechten zwischen Klaus Kastberger und dem neuen Juror Philipp Tingler gleich eine neue Front in der Jury, die noch viel Unterhaltungswert verspricht. Die Autoren sind dabei zugeschaltet und können sich an der Diskussion beteiligen, was schon von der ersten Teilnehmerin genutzt wurde. 3sat überträgt wie jedes Jahr die Lesungen und Diskussionen sowie die Preisverleihung live, der Bewerb wird auch im Internet gestreamt.

Im Mittelpunkt von Ramadans Auftakt-Text steht der Werbefilmregisseur Ben Kubik, einerseits ein geschäftlich wie künstlerisch erfolgreicher, gut verdienender Mann, andererseits unter schweren psychischen Störungen leidend, die auch seine Ehe mit der Autorin Leila zerstört haben. Ein zweites Kapitel dreht Bens Geschichte weiter in Richtung seiner früheren Freundin Marlene und schließt mit einem seltsamen Erlebnis der Frau in einem Bus: Ein neben ihr sitzender weiblicher Fahrgast erleidet eine Panikattacke und kann nicht Platz machen, als Marlene aussteigen möchte. Das Motto ist Adorno entlehnt: "Es gibt keinen richtigen Mann im falschen."

"Ein famoser Beitrag", urteilte der neue Juror Philipp Tingler zu Beginn der Jury-Diskussion – bei der nicht nur alle Juroren, sondern auch der jeweilige Autor am Screen eingeblendet ist – über den von ihm eingeladenen Text, der "den Geist der Zeit" mit einem "Ton von großer lakonischer Eleganz" darstelle. Insa Wilke entdeckte darin eine "Parodie des Geschlechterkampfes", Klaus Kastberger fand ihn – immer wieder unterbrochen von Tingler ("Ich quake immer dazwischen, das ist so meine Art") – "recht simpel und mechanistisch". Mit Hubert Winkels, der den Text "sehr wenig durchdacht" und "grotesk falsch" nannte ("Er funktioniert in der Erzählstrategie nicht.") lieferte sich Philipp Tingler gleich die erste heftige Debatte. Kritisch äußerten sich auch Michael Wiederstein ("zu eindeutig") und Brigitte Schwens-Harrant ("Der Text lotet nichts aus."). Zu einer halbherzigen Verteidigung des Textes schwang sich Nora Gomringer auf: "Es ist nicht notwendig, dass er so heruntergemacht wird.". Das Schlusswort lieferte die Autorin selbst: "Ja, wow, natürlich stimme ich vielem nicht zu", meinte sie und versicherte, sie habe sich beim Schreiben sehr wohl amüsiert – was die parodistische Lesart Wilkes unterstützte.

Science-Fiction-Welt

"Für bestimmte Welten kämpfen und gegen andere" heißt der Text, den die 1990 geborene deutsche Autorin und Journalistin Lisa Krusche vorlas, und der eine junge Frau in einer offenbar nahen, dystopischen Zukunft zeigt: Protagonistin Judith lebt in einem Hochhaus an der Seite eines Robohundes, den sie ebenso wie eine Pistole bei einer Dealerin besorgt hat, und vertreibt sich ihre Zeit mit dem Spielen von Online-Gemeinschaftsspielen, in denen etwa ein ständig Gedichte vortragendes Pferd vorkommt. Mit ihrer Freundin Camille, die irgendwo an Symbionten und Avataren arbeitet, steht sie nur noch in Mail-Kontakt.

Wilke zeigte sich "beeindruckt vom Mut zum Politischen, vom Mut zum Gefühl", den Krusche in aller Komplexität und Widersprüchlichkeit in eine Science-Fiction-Welt eingebaut habe: "Man glaubt, man ist in Blade Runner gelandet." Winkels entdeckte zahlreiche Bezüge zur griechischen Mythologie, Michael Wiederstein sah das reale Computerspiel "The Last of Us" als Vorbild, doch "es ist verdammt schwierig, ein Computergame zu erzählen". Ganz und gar nicht angesprochen fühlte sich Tingler, der "scheinbar intensive, doch oberflächliche Bilder" ortete und die Frage stellte: "Worum geht's hier eigentlich?". Schwens-Harrant fand das "sehr gut gearbeitet", Gomringer ortete ein Beispiel von "Game-Fiction", und Kastberger, der Krusche eingeladen hatte, verwies (nicht als einziger) auf viele Bezüge zu den Arbeiten der US-Biologin und Feministin Donna Haraway.

"Pseudo und nicht echt"

Nach Konstanza in Rumänien und auf die Spuren des Grabs von Ovid führt die Reise dreier Männer in der Erzählung "Über uns, Luzifer", die der deutsche Autor Leonhard Hieronymi vorlas. Vor der heutigen Gegenwart des Landes gibt es viele Anspielungen auf die Geschichte, von Katharina II. bis Ceausescu, aber auch auf die erste EU-Ratspräsidentschaft Rumäniens. Und schließlich hat der Text gegen Ende auch noch Elemente einer Literaturbetriebssatire.

Insa Wilke ortete in dem Text "eine konservative Ästhetik" und "eine Leere", die hinter den vielen verwendeten Zeichen stehe. Tingler fand einen "dandyesken Anspruch, der nicht wirklich eingelöst wird", und ein "Fehlen jeder Ironie" (was von Wilke und Kastberger in Abrede gestellt wurde) sowie eine "nur mittelmäßige geistige Durchdringung". Winkels zeigte sich angesichts dieses Textes "über behauptete und nicht eingelöste kulturelle Größe" recht ratlos. "Der Autor hält diesen Ton nicht durch", befand Kastberger, der den Text mit Christoph Ransmayrs "Die letzte Welt" verglich, in dessen großen Fußstapfen Hieronymi jedoch scheitere. "Ein Text im Jetzt, suchend und verwirrend", lautete Gomringer Urteil, "pseudo und nicht echt". "Handwerklich nicht alles in Ordnung", fand Schwens-Harrant. "Dieser Text ist eine Kritik an unseren Erinnerungs-Kulturtourismus", konstatierte Michael Wiederstein, der den Autor eingeladen hatte.

"Veraltetes akademisches Literaturmodell"

Mit ihrem Text "Nadjeschda" hat die 1976 in Innsbruck geborene Autorin Carolina Schutti am Donnerstagnachmittag die Lesungen der 44. Tage der deutschsprachigen Literatur fortgesetzt. Sie ist die erste von heuer fünf Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus Österreich im 14-köpfigen Feld und löste mit seinem sprachlichen Zugriff die erste Grundsatzdebatte über das Literaturverständnis der Jury aus.

In dem auf einer radikalen Innensicht aufbauenden Text wird die offenbar verunfallte Erzählperson in einer (möglicherweise psychiatrischen) Klinik besucht. Erinnerungen an früher und an den Unfall mischen sich in die Impressionen des Besuchs: "Wie sie sich anfühlt, die Faust, in der Holzsplitter stecken. Rot, heiß, pulsierend. Wie es sich anhört, das Geräusch von krachendem Holz. Wie sie aussieht, die Flugbahn der von der Wand abprallenden Handsäge, die nur knapp das Gesicht verfehlt."

Hubert Winkels ortetet eine "Leichtigkeit und Eleganz der Darstellung", Insa Wilke sah "etwas sehr Machtvolles in der Art, wie sich der Text entwickelt". "Ich fürchte, ich bin der falsche Leser für diesen Text", meinte Kastberger, der angesichts der insistierenden Ruhe und der ständigen Wiederholung nervös wurde: "Ich frage mich, muss denn wirklich jeder Blutstropfen gezählt werden?" Ausnahmsweise zeigte sich Tingler mit Kastberger in seiner Kritik einig und löste mit seinem harschen Urteil in der Folge einigen grundsätzlichen Widerspruch aus: "Für mich ist das ein Paradebeispiel für ein veraltetes akademisches Literaturmodell", eine "hermetisch abgeschottete Prosa", sagte er. Für Nora Gomringer war es "eine sehr anstrengende Geschichte, die mich eher ratlos gelassen hat". Michael Wiederstein zeigte sich dagegen "ganz positiv überrascht" von der Lesung, anders bei der eigenen, als anstrengend wahrgenommenen Lektüre. "Ich finde das sehr gut gearbeitet", meinte Neo-Jurorin Brigitte Schwens-Harrant, die Schutti eingeladen hatte, und brach eine Lanze für diese Art von langsamer, in sich kreisender Literatur: "Die poetische Weise lässt mehr atmen."

Maschinen in der Textproduktion

Völlig anders gestaltete sich der Abschluss des ersten Lesetages: In seinem "kuzushi" betitelten Text bot Jörg Piringer einen Rückblick auf eine politische und technologische Entwicklung und einen Ausblick auf ein Zukunft, in der Software und Maschinen in der Textproduktion aktiv mitwirken. "ich habe gewusst dass diese frage kommen wird / sie kommt jedes mal / das system lernt tatsächlich / es lernt / texte zu schreiben / es wiederholt nicht einfach nur phrasen / oder absätze / es ist / wenn sie so wollen / kreativ", heißt es etwa. Der 1974 geborene Wiener ist Spezialist für poetische Software und visuelle Poesie und war mit seinem mechanischen Vortrag eines experimentellen Textes der glatte Gegenpol zu Schuttis vorsichtigen poetischen Erkundungen des Menschlichen.

Nicht aus dem Gleichgewicht bringen ließ sich davon die Jury, "da wir heute schon den ganzen Tag nicht im Gleichgewicht waren", wie Kastberger feststellte. Und so gab es für den Text, der wie der Autor auf Nachfrage von Wiederstein zugab, auch eine vom Computer geschriebene Passage enthielt, weder überschäumendes Lob noch ähnlich hitzige Debatten wie bei den Beiträgen davor. Winkels lobte die Ambivalenz des Textes in der Frage nach der Autorenschaft und begrüßte auch die Judo-Passagen: Bei dem Text gehe es stets auch darum, "wer hier wen auf die Bretter zieht".

Nora Gomringer sah in dem Text "einen Monolog, ein Lamento, ja fast ein Bekennerschreiben eines Webentwicklers" und zeigte sich angetan von der Frustration des Erzählers über die Entwicklungen des einst "freien Netzes". Insa Wilke äußerte sich angesichts anderer Arbeiten des Autors "erstaunt, dass der Text zwar die Spuren legt, aber dann auf der Inhaltsebene bleibt". Sie hätte sich vom Text gewünscht, der Frage nach einem möglichen moralischen Bewusstsein einer künstlichen Intelligenz nachzugehen. Tingler war schließlich etwas enttäuscht, dass der Text größtenteils vom Autor stammt, die zweite Ebene der Kampfsportmetaphorik empfand er als zu gewollt. "Das Ganze wirkt irgendwie so frisch wie die Idee, alles klein zu schreiben."

Morgen, Freitag, startet um 10 Uhr Helga Schubert, mit 80 Jahren die älteste Teilnehmerin. Um 11 Uhr folgt Hanna Herbst, danach liest Egon Christian Leitner. Am Nachmittag folgen Matthias Senkel und Levin Westermann. Die letzten Lesungen finden am Samstag statt, die Preisvergabe folgt am Sonntag. (APA, 18.6.2020)