Der berühmte Meidlinger Markt entstand schon in der Zwischenkriegszeit.

Foto: Elodie Grethen

Die Stadt ist ein Palimpsest. Schriften lagern überein ander, Gebäude, Geschichten, die Gebeine der Toten. Aus Friedhöfen werden Parks, aus Fuhrwerkshäusern Gemeindebauten, aus Gstätten Verkehrsknotenpunkte. Manche Dinge werden ausgelöscht, andere treten plötzlich wieder hervor. Das Neue entsteht neben und über dem Alten, das ausgegraben wird: ganz wörtlich bei Bautätigkeiten, im übertragenen Sinn beim Nachlesen von Erinnerungen, dem Anschauen alter Bilder und Fotografien.

Teil der Stadt Wien wurde Meidling erst im Jahr 1892. Davor war es Vorstadt, und zwar jene außerhalb gelegene Vorstadt, die nicht nur jenseits der Basteien, des heutigen Rings lag, sondern überdies noch außerhalb des Linienwalls, des heutigen Gürtels. Als Meidling in die Stadt eingemeindet und ein eigener Bezirk wurde, fasste es Siedlungen zusammen, in deren Namen das Dörfliche bis heute noch klingt: Gaudenzdorf, Hetzendorf, Altmannsdorf, Obermeidling und Untermeidling.

Rheuma, Gicht und Ischias

Die tiefsten Schichten des Bezirkspalimpsestes werden in seinem Wappen konserviert. Das Wasser spielt hier eine außerordentliche Rolle, Wasser, das heute gebändigt und gezähmt und im Bewusstsein nicht mehr sehr präsent ist. Im Siegel von Untermeidling sieht man eine Quellnymphe, die nackt in aufzüngelnden Wellen steht, die lange Lockenpracht vom Wind aufgewirbelt, und zwei Krüge hält.

Die Krüge symbolisieren die beiden Heilbäder, in denen das warme, schwefelhaltige Wasser der Quellen – Meidling liegt auf der Thermenlinie – schon seit langer Zeit zur Anwendung gebracht wurde. Rheuma, Gicht und Ischias sollte das Wasser heilen, es wurde auch in Flaschen abgefüllt und in der Apotheke zur Goldenen Krone am Graben verkauft.

Die Wasserader des Pfann’schen Kurbades wurde 1819 entdeckt. Max Winter berichtet in seinen 1908 veröffentlichten Meidlinger Bildern, dass der Schwefelqualm aus dem niedrigen Schlot des Bades eine zusätzliche Belastung in den ohnehin elenden Proletarierwohnungen der Umgebung war. 1976 wurde es geschlossen, und sein Wasser gluckert nun wieder unterirdisch – im Hermann-Leopoldi-Park gegenüber dem Meidlinger Markt.

Private Kuranstalt

Das zweite Bad, das Theresienbad, besteht bis heute. Es ist möglicherweise sogar das älteste Wiens, denn schon die Römer, von denen es hier Siedlungsreste gibt, könnten die Quelle genutzt haben. Maria Theresia kaufte das Areal und gründete im dort befindlichen Schlösschen eine "Wollenzeug-Fabrik", in der Frauen mit unstetem Lebenswandel zur Zwangsarbeit verpflichtet wurden.

Im Bereich des Brunnens richtete sie für sich und ihre Familie eine kleine private Kuranstalt ein. Wie bei vielen Gebäuden des Bezirkes ist die heutige Version des Theresienbades nach zahllosen Umbauten und der völligen Zerstörung durch einen Bombentreffer im Zweiten Weltkrieg die x-te. Seit 1902 wird das Wasser nicht mehr aus den Schwefelquellen, sondern aus der Ersten Wiener Hochquellenleitung eingespeist.

Wo er nicht überwölbt ist, erkennt man den Fluss heute im Stadtbild als tiefe Schneise, die neben Schienen oder Straßen verläuft. Will man ihn tatsächlich zu Gesicht bekommen, muss man sich über ein Geländer beugen und in den Steinsarkophag hinunterschauen, in dessen Mitte er braun und tot dahinfließt.

Oder man muss mit der U6 über die berühmte Otto-Wagner-Brücke fahren, die im Zuge des U-Bahn-Ausbaus in den Achtzigerjahren um ein Haar abgebrochen worden wäre. Mit ihren grünen Lorbeerkränzen aus Zinkguss auf den hohen Pylonen und ihrer erheblichen Steigung zeigt sie den kühnen Verlauf der einstigen Stadtbahn. Mit Rauch und Dampf brauste diese dahin, futuristisches Wunderwerk zu Zeiten Kaiser Franz Josephs.

Fische und Krebse

Auf alten Stichen sieht man noch, welch herrliches baum- und felsgesäumtes Gewässer die Wien einst war. Sie versorgte die Menschen mit Fischen und Krebsen, auch zum Wäschewaschen wurde sie genutzt. Doch schon lange vor der Erfindung des Begriffes "Umweltverschmutzung" setzte diese dem Idyll ein Ende.

Wie so oft auf dieser Erde verloren als Erste die Fischer die Arbeit. Mit der Ansiedlung von Färbern und Gerbern wurde der Fluss Anfang des 19. Jahrhunderts zur giftigen Kloake. 1882 schrieb eine Expertenkommission über die "von animalischen und vegetabilischen Abfällen starrende Jauche".

Doch während das Ökosystem des Flusses zerstört war, er mit seinem Gestank die Anrainer quälte und in den 1830er-Jahren die Cholera verbreitete, ging die größte Gefahr von seiner Neigung aus, häufig und heftig über die Ufer zu treten. Auf ihrem Weg vom Wienerwald in das Stadtgebiet wird die Wien von über hundert Bächen gespeist, deren Zufluss sie bei Schneeschmelze oder Regenwetter rasch zum Anschwellen bringen.

Alle paar Jahre gab es verheerende Hochwasser, Häuser und Brücken wurden zerstört, Vieh und Kinder ertranken. Selbst im Schloss Schönbrunn stand das Wasser, es wurde überflutet wie ein venezianischer Palast, in dessen Tore man mit dem Boot hineinfährt.

Obsoleter Schutzpatron

Hier kommt nun ein Heiliger ins Spiel, der in Meidling an die einstige Gefahr erinnert: der heilige Johannes Nepomuk. Im Bezirkswappen, wo er Gaudenzdorf repräsentiert, ist er mit seinem weißen Chorhemd und dem mit fünf Sternen bestückten Heiligenschein auf einer Brücke stehend zu sehen. Als Prager Generalvikar geriet er in Konflikte zwischen Weltlich- und Geistlichkeit und soll 1393 von König Wenzel IV. persönlich mit Fackeln gefoltert worden sein.

Gefesselt und geknebelt warf man ihn von der Karlsbrücke in die Moldau, in der er ertrank. Sein dahintreibender Leichnam soll von wundersamen Lichtern umschwebt worden sein, weshalb er als einziger Heiliger neben der Muttergottes mit Sternenkranz dargestellt wird. In der Folge wurde der Märtyrer zum Patron der Flößer, Schiffer und Brücken und zum Schutzheiligen gegen Wassergefahren. Im heute überaus trockenen Meidling versieht er seinen obsolet gewordenen Dienst in der ihm geweihten Pfarrkirche.

Die Bemühungen des Heiligen wurden von einem Wassermännlein unterlaufen, das in der Wien lebte. Sein Wohnort wurde grob zwischen Schönbrunner Brücke und Lobkowitzbrücke lokalisiert, wo es Wehre gab, auf denen es abends bei feuchtem Wetter zu sehen war. Es war adrett gekleidet, in einem grauen Rock mit blauen Knöpfen und gelben Beinkleidern. Das Wasser tropfte beständig von ihm herab. Seine nassen Haare waren bodenlang und grün.

Bettina Balàka las in Meidling über Meidling.
Foto: Franzi Kreis

Wie die Nixen trachtete es, Seelen ins Verderben zu ziehen, und wie diese kämmte es sich sein Haar mit einem goldenen Kamm. Sah ein im Fluss Badender, wie sich das Männlein frisierte, war er schon so gut wie verloren. Nur ein schneller Sprung aus dem Wasser und über die Wagenspuren entlang der Wien konnte ihn retten – denn diese waren für Dämonen unüberwindbar.

Lavendel und Covid-19

Das Gedächtnis ist ein Palimpsest, sagt man. Schriften werden abgerieben und sind doch immer da. Um die tieferen Schichten eines Palimpsestes zu sehen, braucht man Vergrößerungsgläser und spezielle Beleuchtung. Wenn man zuvor in der Geschichte gegraben hat, kann man beim Anblick eines Ortes mehrere Zeitschichten übereinander wahrnehmen.

Im Mai 2020 liegt das Schloss Hetzendorf verlassen da. Der Lavendel blüht auf kreisrunden Beeten. Die vier Barockstatuen auf dem Dach, der Gott Dionysos und drei seiner Bacchantinnen, wiegen sich vor einem blitzblauen Himmel ohne Kondensstreifen. An den Türen hängen Anschläge, die bekanntgeben, dass die Modeschule Hetzendorf aufgrund von Covid-19 geschlossen ist.

In einem Seitentrakt sieht man durch das Fenster kopflose Schneiderpuppen. Man kann repräsentative Teile des Schlosses für private Anlässe mieten. Vor Jahren war ich hier auf einer Hochzeit. Social Distancing war ein Begriff, der noch nicht erfunden war. Wir begrüßten einander mit Küssen und Umarmungen, wir tanzten, einander an Händen, Hüften und Schultern haltend. Wir saßen auf der großen Terrasse vor der Gartenfassade und blickten auf den verzauberten, mit bunten Laternen geschmückten Park.

Waisenkinder als Versuchskaninchen

Einhundertundsechzig Jahre zuvor war die Stimmung wohl eine andere gewesen. Der mit der Niederschlagung der Revolution von 1848 beauftragte Alfred I. Fürst zu Windisch-Graetz hatte hier sein Hauptquartier aufgeschlagen. Am 29. Oktober wurde der Gaudenzdorfer Schneidergeselle Anton Emmer hinter den Schlossmauern standrechtlich erschossen.

Irgendwo hier, vielleicht unter einem der prächtigen Bäume, vielleicht unter dem Asphalt der Höfe, liegt er begraben. Gerüchten zufolge hatte er vor seiner Hinrichtung sein Grab selbst ausheben müssen.

Noch einige Jahrzehnte früher ist man wieder beim Problem der Seuchen und des Abstandhaltens angelangt. Als Maria Theresias Schwiegertochter Maria Josepha an den Pocken erkrankte, blieb ihr Gatte, der spätere Kaiser Joseph II., dem Krankenbett ebenso fern wie später dem Begräbnis. Dies verwundert nicht, hatte er doch bereits seine erste Gemahlin an die hochinfektiöse Krankheit verloren. Die Kaiserin jedoch bestand darauf, die Todgeweihte noch einmal zu umarmen – und war wenige Tage später selbst erkrankt. Wie durch ein Wunder überlebte sie.

Schon einige Jahre zuvor war Maria Theresia, die auch vier eigene Kinder an die Blattern verloren hatte, zur Impfpionierin geworden. Im Schloss Hetzendorf richtete sie ab 1762 eine Blatternimpfstation für adelige Kinder ein. Das vom niederländischen Arzt Jan Ingenhousz entwickelte Serum war, wie damals üblich, zuvor in Waisenhäusern getestet worden. Das Einverständnis der Probanden hatte man dabei nicht eingeholt.

Jedes Frühjahr wurden im Schloss Hetzendorf die zur "Inoculation" eingeladenen Kinder samt ihren Familien für vier Wochen untergebracht, verpflegt und von Ärzten betreut. Um ihnen den Impfaufenthalt so angenehm wie möglich zu machen, ließ die Kaiserin Spiele, Lotterien und Feste veranstalten. Ob irgendjemand dabei an die Waisenkinder dachte, die als Versuchskaninchen gedient hatten, ist nicht überliefert. (Bettina Balàka, 21.6.2020)