Eine Grenze, laut Definition, ist der Rand eines Raumes, ein Wert, der etwas von etwas anderem trennt, Trennlinie, Trennfläche, etwas hebt sich von etwas anderem ab. Ein Land von einem anderen, zum Beispiel.

Foto: APA / Roland Schlager

Das Blau des Himmels liegt unter einer zarten Verschleierung. Die Sonne scheint. Kühle Morgenluft zieht durch die Wohnung. Ich sitze beim Fenster zum Innenhof und bin dankbar über diesen Raum, in dem sich die Jahreszeit spiegelt und sich mein Blick bewegen kann. Dichtes Grün zeigt sich an den Ästen der Bäume, die ich mittlerweile alle bestimmen kann, die Kastanie, der Kaiserbaum, die große Winterlinde, zum Beispiel, direkt im Blick.

Krähen krächzen und fliegen zu ihren Nestern, die sie aufs Dach gebaut haben. Sie sind mehr geworden und sie kommen nah ans Fenster heran. Frech, denke ich, die Meisen, die zur Scheibe flattern, und die Tauben, die über die Fensterbank spazieren. In den vergangenen Wochen testeten sie ihre Grenzen aus.

Über Grenzen muss ich mir Gedanken machen, jetzt, in dieser Zeit, da alles anders geworden ist. Alles ist eine neue Erfahrung in vermeintlich neuer Normalität. Hinter uns liegen Ausgangssperren, Quarantänen, ein überschaubarer Bewegungsradius und Rückzug. Stay at home, save lives. Das Mindeste, was man tun konnte.

Radikale Änderungen

Viele Wochen sind es gewesen, in denen sich das Leben radikal verändern musste. Es geschah, egal ob man es wollte oder nicht. Auch ich konnte zu Hause bleiben, auch ich wurde in eine Veränderung gedrängt. Morgens bin ich beim Fenster zum Hinterhof gesessen, dort ist immer Licht. Ich habe geputzt, um mich abzulenken, gelesen und geschrieben, um unterwegs zu sein, oft überkam mich Ungewissheit. Ich lotete, so gut es mir möglich war, meine Grenzen aus.

Eine Grenze, laut Definition, ist der Rand eines Raumes, ein Wert, der etwas von etwas anderem trennt, Trennlinie, Trennfläche, etwas hebt sich von etwas anderem ab. Ein Land von einem anderen, zum Beispiel. Nie waren geografische Räume in solch einer Deutlichkeit, wie es seit Mitte März der Fall war und immer noch ist, zu spüren.

Jedes Land scheint eine Insel geworden zu sein, manchmal in Unerreichbarkeit gehüllt. Jedes Land, so schien es lange, stand mit der Pandemie für sich, setzte seine Maßnahmen, suchte seine Fallzahlen so gering und das Gesundheitswesen so stabil wie möglich zu halten und den eigenen Wirtschaftsraum zu stützen. Das Eigene.

Das, was war, verbindet

Viel zu lange wurde über das Gemeinsame geschwiegen. Nur zögerlich wurde einander Hilfe angeboten. Alles, was nicht das Eigene war, auch wenn es im Nachbarland passierte, knapp hinter einer Grenze, schien weit entfernt zu sein, so weit wie niemals zuvor. Froh war man, dass Österreich nicht Italien, China oder Spanien ist, nicht Großbritannien, Brasilien, nicht Amerika. Man konnte sich selbstzufrieden auf die Schulter klopfen.

Davor war die Welt für viele grenzenlos, globalisiert, vernetzt. Ein Staat wusch die Hand des anderen. Ein Europa, eine Welt. Auch ich habe mich als Teil dieser Illusion gesehen, dass es keine Grenzen gibt, und wenn, dass ich das Privileg der Freiheit habe, sie jederzeit überschreiten zu können.

Viel ist seit dem Davor geschehen. In Europa, auf der Welt. Wenn ich lesen musste, dass Transporte an Atemmasken und Schutzbekleidung für Länder, die sie dringend gebraucht hätten, nicht über Grenzen gelassen wurden, weil man sie sich für den Eigenbedarf behalten wollte, weiß ich immer noch nicht, was ich denken soll. Grenzen zu ziehen, kommt mir in den Sinn, muss man sich leisten können.

Grenzen der Vorstellungskraft

Wenn ich mir vor Augen führe, dass noch immer nicht ernsthaft daran gedacht wird, den syrischen Flüchtlingen, die zu Tausenden auf engstem Raum in Lagern auf Lesbos festsitzen, in Zuständen, die wir uns nicht vorstellen können, in einem Eingegrenzten, das nicht einmal mehr Hilfsorganisationen betreten durften, in Angst, die das Überleben betrifft, nicht und wenn, dann spärlich geholfen wurde, weiß ich es auch nicht.

Wenn im Sinne eines Notfallgesetzes Demokratien ausgehebelt wurden, wenn der Hunger der Bevölkerung, wie es etwa in großen Teilen Latein- und Südamerikas der Fall ist, die schlimmere Bedrohung als das Virus ist, wenn häusliche Gewalt an Frauen stark zunimmt, wenn sich plötzlich die Frage nach der Systemrelevanz mancher Berufsgruppen stellt, wenn weltweit Menschen vor dem Nichts stehen. Und, und, und. Hier sind die Grenzen meiner Vorstellungskraft erreicht. Hier, in dieser anhaltenden Tatenlosigkeit, werden die Grenzen der Mit-Menschlichkeit überschritten.

Ob wirklich jedes Leben zählt?

Die Welt, in der wir brandbeschleunigt in den vergangenen Monaten angekommen sind, hat ihren Weichzeichner verloren. Klar und überaus deutlich sind soziale Missstände, fehlende Gleichberechtigung und Rassismus ans Licht gekommen. Ob wirklich jedes Leben zählt und niemand zurückgelassen werden muss, wird sich erst zeigen.

Mittlerweile ist es Nachmittag und der Himmel bedeckter. Es sind Wolken, die auf den Hinterhof drücken, auch auf die Stimmung. Der Wind rüttelt am Lindenbaum. Die Meisen sind verschwunden. Alles um mich herum kündigt ein Gewitter an. Auf dem Balkon gegenüber stehen die Nachbarn und rauchen. Seit Beginn der Pandemie grüßen wir uns und winken einander zu.

Das, was war und ist, verbindet uns und hat die Grenze der Anonymität, wie man sie in Städten lebt, aufgehoben. Ich vermute, temporär. Manchmal, abends, hören die Nachbarn Musik, manchmal schalte ich dazu meine handflächengroße, sich selbst beleuchtende Discokugel ein. Es ist ein kleines Miteinander. In den quadratischen Spiegeln reflektiert die Außenwelt. Selbst wenn man sich nur innerhalb der eigenen vier Wände bewegen kann.

Man hebt, wo man kann, Begrenzungen auf, die man sich vielleicht jahrelang selbst gesetzt hat, und verändert aus dem Wunsch nach mehr Freiheit heraus das eigene Verhalten. Alle sitzen wir in diesem Boot, das sich immer noch nicht für eine Richtung entschieden hat. Der Freiheitsdrang verbindet. Der Mensch will tun und lassen, was er will, strebt in die Bewegung, in die weite Welt, das Grenzenlose an.

Es ist nicht normal

Aber um das Grenzenlose ist es still geworden. Die schrittweise Öffnung der Geschäfte, der Lokale, der Freizeitaktivitäten täuscht Normalität vor. Auch die Grenzöffnungen, die nach und nach zugelassen werden. Es ist nicht normal, es ist befremdlich, dass die Grenzen geschlossen waren und dass man über weitere Öffnungen verhandelt.

Auch dass man, selbst wenn man sich innig und über lange Zeiträume kennt, in Abstand zueinander sein muss und sich nicht einmal umarmen darf. Der eigene Körper ist eine Grenze geworden, die ein anderer nicht überschreiten darf.

Die eigenen Grenzen kennen

Es ist beängstigend. Genauso wie die Stille, die wochenlang über der Stadt gelegen ist. Eine Stille ist es gewesen, die mir schon einmal begegnet ist. Das war in Bogotá, Ende des vergangenen Jahres. Es gab aufgrund von Protesten Ausgangssperren. Die Geschäfte waren aus Angst vor Plünderungen und vor weiteren Ausschreitungen und Vandalismus geschlossen worden. Man sagte mir, der Vandalismus sei regierungsinszeniert gewesen. Eine Machtdemonstration. Das Polizeiaufgebot wurde verstärkt, das Militär kontrollierte.

Nachts, wenn man aus dem Fenster blickte, waren die Straßen gespenstisch leer, sodass die Gedanken nur schwer zur Ruhe kamen. Es ist ein Szenario gewesen, dass wir gerade in vielen Städten der USA beobachten können.

Denke ich an diese Erfahrung zurück, fällt mir das Zitat des schwedischen Filmemachers Ingmar Bergman ein: "Es gibt keine Grenzen. Weder für Gedanken noch für Gefühle. Es ist die Angst, die immer Grenzen setzt." Angst setzt Grenzen. Angst kann Grenzen sprengen und lässt sie einen überschreiten. Das zeigen die Proteste, wie sie in Kolumbien waren und wie sie aktuell die USA und solidarisch viele Teile der Welt bestimmen.

Es braucht Zeit, die eigenen Grenzen kennenzulernen. Das tägliche emotionale Sein stellt uns vor Herausforderungen, auch das neue Miteinander, das Verzicht an körperlicher Nähe bedeutet. Das Aus-dem-Fenster-Lehnen wurde zu einer Erfahrung von Grenze. Eine eigenartige, neue Welt, die sich erst Orientierungspunkte suchen musste.

Ob es eine schönere, neue Welt werden wird, die dann, wenn alles überstanden ist, auf uns wartet? Das ist ein Gedanke, der mir zum jetzigen Zeitpunkt unvorstellbar ist. Ich habe Angst, dass Grenzen unser weiteres Sein bestimmen werden, und nicht Freiheit, in der jedes Leben zählt und niemand zurückgelassen wird. Ich glaube nicht, dass es einfach ist, die Grenzen, die geschlossen wurden, im Innen und im Außen, wieder aufzumachen.

Alltägliche Grenzen

Grenzen, selbst wenn wir sie nur für kurze Zeit erfahren, prägen. Sie formen unsere Identität. Das Wer-wir-sind, das Wer-wir-werden-könnten. Viele werden vieles anders sehen, anderes sehen vielleicht. Anders die Räume erfahren, in denen sie sich bewegen. Schwellenzauber, so nennt es Walter Benjamin im Passagen-Werk, ist das Erfahren der unsichtbaren Grenzen, die der Alltag hat.

All die Dinge, die sich voneinander abheben, der Stuhl vom Teppich zum Beispiel, ein Türrahmen in einer Wand, oder aber auch ein Ort von einem anderen, plötzlich ist man mitten in einer anderen Atmosphäre, erfährt Strukturen, Formen, Farben, Töne und Gerüche, die man so nie wahrgenommen hat. Plötzlich ist alles anders. Ich hoffe naiv, grenzenlos. (Isabella Feimer, 21.6.2020)