Eine leere Rialtobrücke und einen leeren Markusplatz, das hat Venedig lange nicht gesehen, auch nicht die Tatsache, dass ein Aperol Spritz um drei Euro zu haben ist.

Foto: Georges Desrues

Am eindrucksvollsten an diesen außergewöhnlichen Frühlingstagen sind jene Orte in Venedig, die Einheimische wie erfahrene Besucher üblicherweise meiden, wie der Markusplatz, die Riva degli Schiavoni oder auch der Ponte di Rialto.

Die berühmte Brücke etwa, auf der zu normalen Zeiten Fußgängerstau herrscht, überquert kein Mensch, niemand steht darauf, keiner fotografiert, die Souvenirläden haben die Rollläden heruntergelassen. Darunter legt am Canal Grande ein Vaporetto an, ein paar Einheimische steigen aus und grüßen die Einsteigenden.

Überhaupt hat man in diesen Tagen den Eindruck, dass in Venedig jeder jeden kennt. Allerorts bleiben Menschen stehen, grüßen einander, plaudern durch ihre Schutzmasken. Die Stimmung ist entspannt, die Erleichterung nach dem virusbedingten Lockdown nahezu greifbar. Alles wirkt, als wäre man in einer x-beliebigen Kleinstadt irgendwo in Italien.

Die berühmte Brücke, auf der zu normalen Zeiten Fußgängerstau herrscht, überquert kein Mensch.
Foto: Georges Desrues

"In Wahrheit sind wir ja auch eine Kleinstadt, nur eben die berühmteste der Welt", sagt Luca Fullin, "vor 40 Jahren lebten hier noch 150.000 Menschen, heute sind wir gerade noch 50.000. Deswegen geht es nun darum, weniger Touristen, dafür mehr Einwohner anzuziehen."

In dritter Generation betreibt der gebürtige Venezianer gemeinsam mit seiner Schwester Benedetta das gutbürgerliche Hotel Pensione Wildner mit angeschlossenem Restaurant in prominenter Lage, direkt an der Riva degli Schiavoni und mit Blick auf den Canale della Giudecca, der mangels Bootsverkehr so spiegelglatt und tiefblau daliegt wie selten zuvor.

Vor fünf Jahren eröffnete das Geschwisterpaar (er ist 38, sie 35) ein weiteres Restaurant. Das "Local" ist ein hippes und puristisch gestyltes Lokal mit großer Auswahl an angesagten "Naturweinen", mit gehobenen Preisen und anspruchsvoller Küche aus – wie schon der Name ankündigt – lokalen Zutaten. Kein Angebot also, mit dem man Touristengruppen oder Kreuzfahrer locken könnte. Aber von den wenigen Einheimischen allein kann man freilich auch nicht leben.

Hochwasser und Kreuzfahrtschiffe

"Schön wäre ein Tourismus, bei dem die Leute die Stadt nicht mehr überfallsartig stürmen, sondern tatsächlich ‚besuchen‘ kämen", sagt der Wirt, "wir hoffen von ganzem Herzen, dass eine Welt untergegangen ist und eine neue entstehen kann." Dazu müsse die Politik allerdings begreifen, dass das Heil unmöglich im Tourismus allein liegen könne. Und dass es Anreize brauche, damit Menschen aus Venedig nicht mehr wegziehen, sondern sich wieder vermehrt hier niederlassen.

In er Tat habe die Stadt in den letzten Jahren fast ausschließlich negative Presse gehabt, betont Benedetta. "Da waren die Massen an Touristen, dann die umweltschädlichen Kreuzfahrtschiffe, die auch noch Unfälle verursachten. Da waren das Hochwasser und die absurd überzogenen Preise in der Gastronomie. Venedig war zum Sinnbild all dessen geworden, das falsch läuft im Tourismus", sagt die Wirtin. Dabei sei die Lebensqualität hier in Wahrheit unglaublich.

"Schön wäre ein Tourismus, bei dem die Leute die Stadt nicht mehr überfallsartig stürmen, sondern tatsächlich ‚besuchen‘ kämen", sagt der Wirt Benedetta.
Foto: Georges Desrues

"Durch die Lagune sind wir umgeben von einem Naturparadies, wie es mitten in Europa einzigartig ist", fährt Luca fort, "dazu das Kulturangebot, das Meer, der Lido mit seinen Stränden, und in etwas mehr als einer Stunde ist man in den Alpen. Zudem ist die ganze Stadt ans Glasfaser-Internet angeschlossen. In den letzten Wochen haben sich viele Menschen an die Arbeit von zu Hause gewöhnt. Hier zu wohnen und zu arbeiten ist höchstes Lebensniveau. Das alles muss man in Zukunft kommunizieren. Und außerdem Steuererleichterungen schaffen für Start-ups, für Agenturen, Studios und Handwerksmanufakturen, die sich hier ansiedeln wollen."

Dann könne Venedig auch wieder zu einer echten Stadt werden, wie sich das während des Lockdowns angedeutet habe. "Plötzlich waren alle hilfsbereit", erzählt Benedetta, "auf Wunsch stellten die Gemüsehändler, die Fleischer und Bäcker ihre Ware auch zu – etwas, das sie seit ewigen Zeiten nicht mehr machten. Und die Taxiboote fuhren gratis Leute ins Spital und holten sie wieder ab. Zum ersten Mal hatten wir alle das Gefühl, in einer Gemeinschaft zu leben."

Arbeitslose Gondeln

Ein Problem sei allerdings, wirft ihr Bruder ein, dass die Stadt keine eigene Verwaltung habe. "Zur Gemeinde zählt nicht nur die Altstadt auf den Inseln, sondern auch die einwohnerstarken Städte Marghera und Mestre auf dem Festland", so Luca, "und jedes Mal, wenn Entscheidungen getroffen werden müssen, überstimmen uns die Festländer." Und so scheiterten bisher auch alle fünf Volksabstimmungen, die die Eigenständigkeit Venedigs zum Ziel hatten. Die letzte davon erst im vergangenen Dezember.

Langsam gewöhnt man sich in Venedig an Leere und Stille.
Foto: Georges Desrues

Ganz unlogisch ist das nicht. Denn während die Fullins mit ihrer gehobenen Gastronomie kaum angewiesen sind auf hohe Touristenzahlen, so trifft auf andere Berufstätige das Gegenteil zu. Etliche Menschen im Dienstleistungssektor, Angestellte wie Klein- und Großunternehmer, verdienen dank Massentourismus ihren Lebensunterhalt. In ihrer überwiegenden Mehrzahl handelt es sich um Pendler, die abends in ihre Wohnungen auf dem Festland zurückfahren. Ihre Interessen und Hoffnungen sind folglich keineswegs dieselben.

Inzwischen ist es Abend geworden, langsam gewöhnt man sich an Leere und Stille. Die tiefstehende Sonne taucht die Palazzi an der Riva degli Schiavoni in sanftes Licht. Entlang der Uferpromenade spazieren ein paar wenige Menschen, immer wieder überholt sie der eine oder andere Jogger.

Ein sanfter Wellengang lässt etliche arbeitslose Gondeln schaukeln, während sich am leeren Markusplatz dutzende Kaffeehausstühle stapeln. Mauersegler kreisen über dem Canal Grande und dem Ponte dell’Accademia, erstaunlich deutlich sind ihre schrillen Rufe zu hören, eine in dieser Stadt gänzlich ungewohnte Geräuschkulisse.

Jenseits der Brücke, im Viertel Dorsoduro, haben einige Aperitif- und Weinbars seit wenigen Tagen wieder geöffnet und sind gut besucht. Den Aperol Spritz gibt’s um drei Euro. Was nicht nur für Venedig ein erstaunlich niedriger Preis ist.

So wie viele Geschäftstreibende der Stadt habe man für die Monate Mai und Juni die Preise gesenkt, erklärt der bemüht freundliche Kellner. Sollten danach wieder mehr Touristen kommen, werde man weitersehen. Lockpreise also, um Touristen anzuziehen.

Auch das hat Venedig noch nie erlebt. (Georges Desrues, 20.6.2020)