Wie präzise konnte der Meister auf die Welt blicken?
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Natürlich lässt sich ein Universalgenie wie Leonardo da Vinci nicht mit einer einzigen "Superkraft" erklären – noch dazu, wenn es nicht nur Spekulation bleibt, ob er diese hatte, sondern auch, ob es diese tatsächlich gibt. Der Forscher David Thaler von der Universität Basel hat nun aber seine Hypothese vorgestellt, dass da Vinci ein "schnelles Auge" hatte, also mehr Bilder oder Lichteindrücke pro Sekunde wahrnehmen konnte als ein Durchschnittsmensch.

Die Idee an sich ist nicht neu: Kunsthistoriker wie Sir Kenneth Clark oder Walter Isaacson hatten dem Renaissancemeister schon im 20. Jahrhundert selbiges attestiert, wenn auch nicht naturwissenschaftlich belegt. Thaler, der im Austausch mit Forschern des Leonardo da Vinci DNA Project stand, hat dies nun nachzuholen versucht.

Faktor FFF

Als Indiz wertet Thaler Notizen, in denen da Vinci schrieb, dass sich die Vorder- und Hinterflügel einer Libelle asynchron bewegen – eine Entdeckung, die man erst vier Jahrhunderte später mit Zeitlupenaufnahmen nachweisen konnte. Mit einer Versuchsreihe maß Thaler die sogenannte Flimmerfusionsfrequenz (FFF), also die Frequenz, ab der einzelne Lichtreize als kontinuierliches Licht wahrgenommen werden.

Für uns Normalsterbliche muss eine Libelle in Zeitlupe versetzt werden.
BBC Earth Unplugged

Im Schnitt können Menschen etwa 20 bis 40 Reize pro Sekunde einzeln wahrnehmen. Um die Flügel einer Libelle in Bewegung sehen zu können, hätte da Vinci zwischen 50 und 100 Reize pro Sekunde wahrnehmen müssen. Thaler und seinen Kollegen gelang dies nicht. Individuelle Unterschiede könnten laut den Forschern genetische Ursachen haben – möglicherweise ist diese hypothetische Fähigkeit aber auch trainierbar, man weiß es nicht.

Dieselbe Fähigkeit vermutet Thaler beim japanischen Maler Hokusai, dessen Bild der "Großen Welle vor Kanagawa" weltberühmt ist. Denn auch Hokusai habe die asynchrone Bewegung von Libellenflügeln bemerkt. Auch manchen Baseballprofis wird laut Thaler ein "schnelles Auge" nachgesagt. Das ermögliche ihnen, die Details eines Baseballs zu erkennen, wenn dieser bis zu 50 Mal pro Sekunde rotiert.

Nützliche Fähigkeit (wenn es sie tatsächlich gab)

Da Vinci hätte dieser Tage also auch eine Baseball-Karriere anstreben und damit seine Universalbegabung um einen weiteren Aspekt bereichern können. Dafür wäre ein Kinobesuch für ihn ein holpriges Erlebnis gewesen, da Filme in der Regel mit nur 48 oder 72 Frames pro Sekunde laufen.

Zu seiner Zeit könnte da Vinci eine solche Fähigkeit beim Zeichnen und Malen geholfen haben, sagt Thaler. Er hätte Details wie den Flügelschlag eines Vogels, Kräuselungen einer Wasseroberfläche oder flüchtige Gesichtsausdrücke sehr genau wahrnehmen und anschließend gleichsam hyperrealistisch umsetzen können. Das Lächeln der Mona Lisa sei so rätselhaft, weil es den Moment vor dem Lächeln einfange. "Leonardos schnelles Auge hat diesen Moment wahrgenommen und festgehalten", so Thaler. (red, 19. 6. 2020)