Der Large Hadron Collider misst 27 Kilometer und kommt auf maximal 14 Teraelektronenvolt. Sein Nachfolger, so er bewilligt wird, ist ein anderes Kaliber: 100 Kilometer Länge und Kollisionsenergie von 100 Teraelektronenvolt sind geplant.

Foto: APA/AFP/VALENTIN FLAURAUD

Am Europäischen Kernforschungszentrum Cern in Genf wurde heute die künftige europäische Strategie für Teilchenphysik beschlossen. Geplant ist nicht nur, mit künftiger Infrastruktur das 2012 entdeckte Higgs-Teilchen genauer zu untersuchen als bisher. Auch die ersten Weichen für einen möglichen Nachfolger des weltgrößten Teilchenbeschleunigers Large Hadron Collider (LHC) wurden gestellt: Die Strategie zielt auf die mögliche Errichtung eines neuen Ringbeschleunigers ab, der die siebenfache Energie des LHC erreichen kann. Die Strategie wurde einstimmig und dem Vernehmen nach recht enthusiastisch von allen Repräsentanten der Cern-Mitgliedstaaten angenommen.

Die Strategie gibt zwei wissenschaftliche Ziele mit höchster Priorität aus: Einerseits soll das Higgs-Teilchen genauer untersucht werden, andererseits sollen Teilchenkollisionen mit noch höheren Energien erzeugt und analysiert werden. Beide Vorhaben sind als komplementäre Ansätze zu verstehen, um physikalische Erkenntnisse jenseits des Standardmodells der Teilchenphysik zu gewinnen. Dabei geht es etwa um die rätselhafte Dunkle Materie oder Hinweise auf Supersymmetrie, die das Standardmodell der Teilchenphysik ablösen könnte.

Ehrgeizige Strategie

"Es ist eine ehrgeizige, aber auch vorsichtige Strategie", sagte Cern-Generaldirektorin Fabiola Gianotti bei einer Pressekonferenz am Freitag. "Wir haben noch kein Projekt freigegeben, das wird erst in einigen Jahren passieren. Aber wir empfehlen eine technische und finanzielle Machbarkeitsstudie für einen künftigen Teilchenbeschleuniger, der letztendlich Forschungen mit sehr hohen Energien möglich macht."

Bis zum nächsten Update der Strategie, die in sechs bis sieben Jahren erwartet wird, soll ausgearbeitet werden, wie ein Ringbeschleuniger mit einer Länge von rund 100 Kilometern technisch, organisatorisch, und finanziell umgesetzt werden könnte. Geplant ist, darin Hadronen mit einer Energie von 100 TeV zur Kollision zur bringen. Kolportiert werden Kosten von gut 20 Milliarden Euro für die gesamte Laufzeit, die sich bis Ende des Jahrhunderts erstrecken würde.

Konkurrierende Collider

Parallel dazu sollen auch alternative Konzepte von Beschleunigern evaluiert werden. Dazu gehören etwa Plasma-Wakefield-Beschleuniger, bei denen Elektronen mit Plasmawellen beschleunigt werden, oder ein sogenannter Myonen-Collider. Mit diesem wären sehr energiereiche Kollisionen möglich, weil Myonen eine 200 Mal so große Masse wie die mit ihnen eng verwandten Elektronen haben. Allerdings zerfallen Myonen schneller und müssten aufwendig aufbereitet werden. "Ob das machbar ist, ist derzeit unklar", sagt Jochen Schieck, Leiter des Instituts für Hochenergiephysik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der auch Teil der "European Strategy Group" ist. Deswegen soll die Realisierbarkeit dieser Konzepte auf den Prüfstand gestellt werden.

Welcher Beschleuniger tatsächlich den Zuschlag erhält, den LHC um 2040 abzulösen, soll im nächsten Update der Europäischen Strategie für Teilchenphysik entschieden werden.

Higgs-Fabrik

Die europäischen Teilchenphysiker sprechen sich in der nun veröffentlichten Strategie zudem für die Errichtung einer Higgs-Factory aus: Das 2012 entdeckte Higgs-Teilchen wirft immer noch viele Fragen auf und soll durch einen Elektronen-Positronen-Beschleuniger genauer als bisher untersucht werden. Der potenzielle 100-Kilometer-Ringbeschleuner wäre eine vielversprechende und dem Vernehmen nach von vielen Forschern favorisierte Möglichkeit, um Higgs-Bosonen in großer Zahl erzeugen und noch genauer vermessen zu können.

Der Plan sieht vor, zu diesem Zweck in den ersten zehn bis 15 Jahren Elektronen und Positronen miteinander kollidieren zu lassen, um Hochpräzisionsmessungen des Higgs-Teilchens durchführen zu können. Langfristig könnte der Mega-Ringbeschleuniger mit Protonen betrieben werden, um bei der Jagd nach neuen Teilchen in bislang unerreichte Kollisionsenergien vorzustoßen.

"Europa an der Spitze festigen"

Der Österreicher Michael Benedikt ist Leiter der Machbarkeitsstudie für den möglichen künftigen Mega-Ringbeschleuniger. Die nun veröffentliche Strategie ist seiner Meinung nach ein "sehr ausbalanciertes Dokument, das klare Zeichen setzt, Europa und das Cern als Spitze in der internationalen Teilchenphysik zu garantieren und zu festigen", sagte Benedikt zum STANDARD.

Österreich besitzt 2,16 Prozent der derzeit noch größten Maschine der Welt: Der 27 Kilometer lange Large Hadron Collider (LHC) am Europäischen Kernforschungszentrum Cern in Genf ist der derzeit umfangreichste und leistungsstärkste Teilchenbeschleuniger des Planeten. Neben dem Institut für Hochenergiephysik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sind das Stefan-Meyer-Institut der Akademie der Wissenschaften, die Technische Universität Wien, die Universitäten Wien, Innsbruck und Linz sowie die Fachhochschule Wiener Neustadt mit Experimenten am Cern beteiligt. (Tanja Traxler, David Rennert, 19.6.2020)