Moderator Christian Ankowitsch in seinem Studio in Klagenfurt. Beim Bändigen der sieben Juroren auf sieben Monitoren war er meist viel zu zaghaft. Ganz links im Bild eine eingespielte, vorab aufgezeichnete Lesung.

Foto: ORF / Johannes Puch

Die digitale 44. Ausgabe der Tage der deutschsprachigen Literatur sind ein würdiger Abschluss der vergangenen Wochen im Lockdown. Denn der ORF stellte seinen Juroren keine schmückenden Banner in die Heimstudios. Wir wissen jetzt also, dass Juror Michael Wiederstein Schuhe als Deko auf dem Tisch stehen hat. Nora Gomringer hat für ihren Auftritt indes einen Ballsaal leergeräumt, und Philipp Tingler wirkt im Sessel vorm Kamin wie ein Bösewicht aus James Bond. Der Neue in der Jury erwies sich denn auch als Rowdy: "Ich quake immer dazwischen, das ist meine Schwäche", entschuldigte er sein ständiges Reinreden in Debatten. "Das macht Sie sympathisch", so Klaus Kastberger bitter.

Tingler war wohl auch schlecht gelaunt, weil die von ihm nominierte Jasmin Ramadan mit ihrem einfach gestrickten Text über Beziehungsunfähigkeit gleich als erste Starterin krachend unterging. Wie überhaupt die meisten Autoren von Tag eins per Webcam zugeschaltet der Jury dabei zusehen konnten, wie sie sie zerlegte.

Schnodderige Not als Tugend

Corona spielte keine Rolle, davon wussten die Autoren beim Einreichen der Texte noch nichts. Aber auch so lag die Welt in den meisten Texten im Argen. Nachdem die Krise uns Worte wie Reproduktionszahl beigebracht hat, hagelte es bei Lisa Krusche so schöne Worte wie "nice" und "getriggert". Sie erzählte in mit An glizismen und Sci-Fi aufgestylter Prosa von einer postapokalyptischen Welt. Wer Literatur verstehen will, darf die Nase künftig nicht nur in Bücher stecken! Ein Computerspiel diente als Bezug.

Eher mittel schnitt auch Leonhard Hieronymis Reise durch Rumänien und die osteuropäische Geschichte ab. Dass Wiederstein befand, die schwache Durchdringung des Themas sei ja eine Groteske auf den hohlen "Erinnerungskulturtourismus" unserer Zeit, imponierte dem Rest wenig.

Hermeneutisches Wetteifern

Wie eine Groteske klang denn auch manche Diskussion. Jurorin Insa Wilke weigerte sich etwa beharrlich, hermeneutisch jemals w. o. zu geben. Immer schüttelte sie noch eine dann auch manchmal beliebig werdende Referenz aus dem Ärmel, um einen Text zu retten. Dessen müde wurde sie erst beim letzten Kandidaten des Tages, Jörg Piringer, der von einem Computertechniker erzählte, der am Internet einst das Freiheitsversprechen erkannte und nun ernüchtert ist. Andere mochten das.

Wohl nicht am Sonntag um die Preise mitspielen wird hingegen Carolina Schutti. Dafür verbucht sie mit "Ein Sprühnebel entkommt mit dem wilden Schnaufen" den Corona-Satz des Tages und ärgerte ihr tatsächlich an viel Innerlichkeit laborierender Text Tingler massiv. Er forderte verständlichen Inhalt und kritisierte ein zu konventionelles Erzählen nach einem "alten akademischen Literaturmodell". Die mäßigende Neo-Jurorin Brigitte Schwens-Harrant hätte gerne mehr dazu gehört. Eine Definition blieb Tingler schuldig, doch alle Kollegen schienen ihm am falschen Pfad.

Weisheit des Alters

Was für einen Unterschied ein Tag machen kann! Nicht nur Philipp Tingler startete wie ausgewechselt in den Freitag. Nach ironischen und teils von Wohlstandslageweile geprägten Erzählhaltungen am Vortag, ging es mit Helga Schubert wirklichkeitssatt los. Sanft resümierte sie die 80 Jahre ihres Lebens zwischen dem schwierigen Verhältnis zu ihrer Mutter und der Beziehung mit dem inzwischen pflegebedürftigen Mann und eröffnete dabei intensiv eine sehr persönliche Welt.

Egon Christian Leitner legte nach und setzte lesend seinen Sozialstaatsroman fort. Der programmatisch durchdrungene Text warf Schlaglichter auf marginalisierte soziale Positionen von Krankheit bis Armut und fand viel Zuspruch. Außer bei Tingler: Eindimensional, stritt er nun wieder. Er fordere Offenheit, habe aber "absolute Überzeugungen, wie Literatur zu sein hat", war Insa Wilke genervt. In der Tat zeigt er sich beim Wechseln des Pullovers adaptiver als bei Texten. Selten hat eine Jury so viel über sich selbst diskutiert.

Noch zwei heimische Starterinnen

Auch die weiteren Autoren machten es nicht allen recht. Hanna Herbst arrangierte in ihrer Verlustanzeige eines geliebten Menschen viele schöne Sätze oft nah am Kitsch. Käme gut auf Social Media. Matthias Senkels Spurensuche in der deutschen Pampa fiel eher durch. Bei Levin Westermans Abschluss über einen ob der Welt frustrierten Katzenfreund "fühlte" nicht nur Nora Gomringer mit. Verstehen zweitrangig, hieß es.

Laura Freudenthaler und Lydia Haider lesen am Samstag unter den Letzten, Preisvergabe ist am Sonntag. (Michael Wurmitzer, 19.6.2020)