Das Coronavirus hat die Grabungsarbeiten unter dem Brennermassiv gebremst, nicht aber die Fragwürdigkeit des Projekts.

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Wien – Die Autobahn A1 in Rumänien mag ein drastisches Beispiel sein. Der Bau der Schnellverbindung von der ungarischen Grenze nach Bukarest wird mehr als neun Jahre dauern statt zweieinhalb wie ursprünglich angenommenen. Die Kosten sind von fünf auf 7,3 Milliarden Euro in die Höhe geschnellt – das neuralgische Stück von Bukarest nach Pitesti noch gar nicht eingerechnet, das 2022 fertig werden sollte.

Diese Entwicklung ist symptomatisch. Viele Milliardenprojekte in Straßen- und Bahnbau in Europa weisen massive Defizite aus, die enorme Kostensteigerungen nach sich ziehen: Der EU-Rechnungshof beziffert diese in seinem diese Woche vorgelegten Bericht mit 17,3 Milliarden Euro – bei einem Gesamtvolumen von 54 Milliarden Euro. Das sind 47 Prozent mehr als veranschlagt.

2,2 Milliarden mehr

Das bedeutet im Schnitt: Jedes der acht von den EU-Prüfern analysierte und von der EU kofinanzierte Megaprojekt kostet im Schnitt um 2,2 Milliarden Euro mehr als bei Planung und Einreichung angenommen. Sehr oft sind es nachträgliche Änderungen, überwiegend Ausweitungen in Umfang und Ausgestaltung, die zur Kostenexplosion führen.

Ob Straßen- oder Bahnprojekte: Die Verzögerungen sind ebenso erheblich wie die Kostensteigerungen.

In der Praxis heißt das: Die Projekte wurden von den Mitgliedsstaaten kleingerechnet, meist um sie in den nationalen Parlamenten durchzupeitschen. Nachträgliche Erweiterungen und Risiken im Bau führen dann zu jenen massiven Verzögerungen – und Verteuerungen, die wiederum die Wirtschaftlichkeit dramatisch senken. Der Brennerbasistunnel (BBT) ist da keine Ausnahme. Die mehr als 50 Kilometer langen Bahnröhren zwischen Innsbruck und Franzensfeste spielen in der Liga der unrühmlichen Beispiele ebenso ganz vorn mit wie die nicht minder umstrittene Bahnverbindung zwischen Lyon und Turin, die bereits 15 Jahre Verspätung aufgerissen hat, von Brüssel und Paris aber unverändert durchgepeitscht werden soll, obwohl Italien längst auf die Bremse gestiegen ist. Sogar Vertragsverletzungsverfahren und Pönalezahlungen sind angedroht.

Die zwei Röhren des Brennerbasistunnels haben bereits Gestalt angenommen.
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Die Unwirtschaftlichkeit wird neben der Verspätung und insbesondere durch unzulängliche Kosten-Nutzen-Berechnungen befeuert. Hinzu kommen deutlich "deutlich zu optimistische" Verkehrsprognosen. Hier spricht der Europäische Rechnungshof ein Grundproblem vieler Milliarden-Infrastrukturprojekte an, denn die Güterverkehrsprognosen liegen nicht nur im alpenquerenden Güterverkehr (dort aber besonders) deutlich hinter den Verkehrszahlen. Um die Schienengütertransport-Prognosen zu verwirklichen, bedürfte es der Einführung erfolgreicher Initiativen zur Verkehrsverlagerung, schreiben die Prüfer des in Luxemburg domizilierten Kontrollgremiums der Europäischen Union ins Stammbuch.

Das freilich ist einer der Hauptkritikpunkte, die seit Jahrzehnten gegen diverse Eisenbahntunnels vorgebracht werden. Die Güterverlagerung auf die Schiene ist illusorisch, der Schienengütertransport stagniert seit Jahren, maßgebliche Zuwächse gibt es bei Kontinentaltransporten fast ausschließlich auf der Straße.

Unrealistische Prognosen

Anhand des Projektes Lyon–Turin rechnet das der Rechnungshof sehr anschaulich vor: Über diesen Alpenpass werden mit der Bahn derzeit gerade einmal drei Millionen Tonnen Güter pro Jahr von Frankreich nach Italien (und umgekehrt) befördert, der Bergübergang ist also unbedeutend im Vergleich zu Brenner oder Gotthard, über die alljährlich zwischen zwölf und 16 Millionen Tonnen gekarrt werden.

Dennoch, und das ist bemerkenswert, legten die Planer in Frankreich und Italien dem Ausbau der Strecke Lyon–Turin einen Anstieg der Transportkapazität auf 24 Millionen Tonnen bis zum Jahr 2035 zugrunde. Das ist nicht weniger als das Achtfache und lasse, schreiben die EU-Prüfer, im Prinzip nur zwei Schlüsse zu: Entweder die bestehende Strecke ist ausgesprochen unangemessen in ihrer Kapazität oder der Verkehr geht über andere Alpenpässe.

Lkw hängt Bahn ab

Da Straße und Schiene in der Region um den Grenzübergang Mont Cenis zusammen derzeit rund 44 Millionen Tonnen auf die Waage bringen, scheint eher Letzteres der Fall zu sein. Der Verkehr sucht sich andere Wege, was mit dem Lkw keine große Überraschung sein sollte. Eine Verlagerung auf die Bahn scheint vor diesem Hintergrund illusorisch.

Vor sechs Jahren ist man bereits von 9,7 Milliarden Euro an Kosten für den Brenner Basistunnel ausgegangen, damals allerdings inklusive Finanzierungskosten.

Kosten übersteigen die Vorteile

Was die stets strapazierten Kosten-Nutzen-Analysen wert sind, zeigt dieses Projekt auch eindrücklich: Bis 2018 ist der Kapitalwert der 2010 auf eine positive Wirkung von zwölf bis 15 Milliarden Euro taxierten Investition dramatisch gesunken, sie liege auf Grundlage einer neuen sozioökonomischen Analyse zwischen minus 6,1 und minus 6,9 Milliarden Euro, was nur einen Schluss zulässt: Die Kosten für die Gesellschaft wären viel höher als die Vorteile, die sich aus dem Bau ergeben, folgern die EU-Buchprüfer. Obwohl die über die Jahre erstellten sieben Befunde für die zwei Tunnelröhren auf der Strecke Lyon–Turin höchst widersprüchlich ausfallen: Eine Neubewertung durch Frankreich fand nie statt, auch die EU-Kommission wurde nicht konsultiert.

Streit über das Potenzial

Von ähnlicher Qualität sind die Verkehrsprognosen für die Strecke München–Verona. Für das Herzstück, den BBT, gibt es nicht einmal eine Erhebung, die Österreich, Italien und Deutschland anerkennen.

Die Kosten für den BBT sind mit 9,3 Milliarden Euro übrigens dort angelangt, wo sie Aufsichtsratsmitglieder der BBT SE im STANDARD bereits im Jahr 2007 verorteten, damals inklusive drei Milliarden an Finanzierungskosten. Letztere sind dank Nullzins inzwischen zwar gesunken, allerdings stiegen die Risiken, die einkalkuliert werden mussten, rechnen die EU-RH-Prüfer vor. Wie damals widersprachen die Bauherren in Wien und Rom auch diesmal, sie beharren auf 8,5 Milliarden. Der RH beharrt auf 9,3 Milliarden Euro aufgrund von Inflation und Risikovorsorgen.

Die Folgen derartiger Vorgänge: Die Lücken in den Transeuropäischen Netzen bleiben solche. Sollten BBT und Co tatsächlich bis 2030 fertig und befahrbar sein, wird sich ihr über den grünen Klee gepriesener Nutzen kaum entfalten können, weil die Zulaufstrecken in Bayern fehlen und in Südtirol bis Verona nicht fertig sind. In Deutschland ist, wie berichtet, nicht vor 2040 mit Streckenausbau zu rechnen, denn dort steht bis dato nicht einmal die Trassenführung fest. Es ist also eher mit 2050 zu rechnen.

Politik reagiert trotzig

Die Politik reagierte erwartungsgemäß mit Kritik auf den kritischen Bericht. Man halte am Bau dieses wichtigen Projektes fest, verkündete der Tiroler Landeshauptmann Günther Platter trotzig im Ö1-Radio. Die ebenfalls aufgescheuchte Brennerbasistunnelgesellschaft (BBT SE) attestiert, dass der EU-RH die Sachlage "nicht umfassend betrachtet" habe. Die Prüfbehörde habe einen Zeit- und Kostenplan zugrunde gelegt, der sich auf die Bewertung eines Vorprojektes aus dem Jahr 2002 mit Baukosten von 4,5 Milliarden Euro berief. Dieses Vorprojekt basiere aber lediglich auf "wenigen Erkundungsarbeiten" exklusive Umweltverträglichkeitsprüfungen. Beim Start 2009 habe das BBT-Projekt bereits Gesamtkosten von 6,9 Milliarden Euro aufgewiesen, die 2018 nach Neuberechnungen der Bauwerkskosten auf 9,3 Milliarden Euro stiegen.

"Unvorhergesehene Schwierigkeiten"

Als Grundlage für den Vergleich der Bauzeiten sollte ausschließlich ab 2011 erfolgen, dem Jahr der Ausschreibungen für die Haupttunnelarbeiten. Das Bauende war damals mit 2026 avisiert worden. "Unvorhergesehene Schwierigkeiten" hätten Verzögerungen herbeigeführt. Im übrigen richte sich die Kritik "hauptsächlich an die Europäische Kommission und an die betroffenen Mitgliedstaaten", spielt die BBT-Baugesellschaft den Ball weiter – auch an den Bund in Wien.

Gründe für die Fehlentwicklungen attestiert der EU-Rechnungshof tatsächlich auch bei der EU-Kommission bei. Sie verfüge nicht über ausreichend Kontrollinstrumente und keine Stabsstelle für derartige Großprojekte, erstelle keine eigenen Prognosen und Berechnungen, ehe sie Förderungen an die Mitgliedsstaaten freigebe. Das weist die Kommission in ihren Stellungnahmen zurück. (Luise Ungerboeck, 20.6.2020)