Polizeiliches Handeln wird nicht allein von Gesetzen oder Führungsentscheidungen bestimmt, sondern auch von ungeschriebenen Denkmustern und Wertehaltungen.

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Bei Schulungen muss man die unterste Ebene in der Polizei erreichen – die duckt sich erfolgreich weg. Alfred Zauner war in den 90er-Jahren externer Leiter der Führungsausbildung der Polizeioffiziere.

Polizei, Rassismus, Menschenrechte – diese Themen bewegen zunehmend viele Menschen. Und nicht nur in den USA. Schon am 20. Dezember des Vorjahres stellte Hans Rauscher in dieser Zeitung angesichts der dokumentierten überschießenden Gewalt bei einer Klimademo und der tagelangen Sprachlosigkeit der verantwortlichen Behörde die Frage: "Wo steht die Polizei?"

Auf eine mögliche Kluft zwischen dem Selbstverständnis der polizeilichen Führung und der Praxis der Einsatzeinheiten verwies zudem ein stilleres, fast zeitgleiches Geschehen: Wenige Wochen vor diesem Ereignis legte das Innenministerium eine Hochglanzbroschüre zum Thema Polizei und Menschenrechte vor: "Polizei.Macht.Menschen.Rechte" (Report Oktober 2019). Dort beschreibt sich die Polizei als größte Menschenrechtsschutzorganisation des Landes und berichtet von der Arbeit der zentral und regional in den Bundesländern eingerichteten Dialogforen zwischen Polizei und Zivilgesellschaft.

System Polizei

Was gilt nun? Täuscht das System Polizei uns und auch sich selbst, oder gilt beides zugleich? Und das, was "oben" stolz verkündet wird, kommt schlicht "unten" bei den "handarbeitenden Polizisten" (Polizeiwissenschafter Rafael Behr), also den Einsatzkräften als Exekutoren des staatlichen Gewaltmonopols, nicht an? Was wäre in diesem doch eher beun ruhigenden Fall zu tun? Zum Zweck der Eingrenzung der sich hier auftuenden Fragen sollen zunächst zwei relativ unstrittige Konsensbereiche festgehalten werden:

Polizeiliche Arbeit ist nicht immer, aber gelegentlich und unvorhersehbar Arbeit in ausgesetzten und gefahrvollen Situationen. Dieses nicht ausschließbare Anforderungselement zählt zum Kern der beruflichen Identität: Die Polizei versteht sich als "Gefahrengemeinschaft", Rückhalt und Unterstützung der Kolleginnen und Kollegen sind im Einsatz unverzichtbar. Das erklärt auch ein häufig zu beobachtendes, geradezu reflexartiges Abschotten des gesamten exekutiven Apparats im Fall medialer Aufdeckung und noch im Prozess einer gericht lichen Aufarbeitung kritischer Vorfälle.

Angesichts der Vielschichtigkeit und unvorhersehbaren Dynamik polizeilicher Einsatzsituationen betonen erfahrene Menschenrechtsexpertinnen und -experten, dass es keine Polizeiorganisation auf der Welt geben würde, in der nicht gelegentlich rechtswidrig überschüssige Gewalt zum Einsatz kommt. Zu beachten sei unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten allerdings sehr wohl, ob offenkundige polizeiliche Übergriffe strafrechtlich und organisatorisch bearbeitet und verfolgt würden oder ob diese individuell und strukturell folgenlos blieben.

Unter dem Aspekt der Kampa gne Black Lives Matter darf aber auch nicht unterschlagen werden, dass die schwersten der offenkundigen Menschenrechtsverletzungen der letzten Jahrzehnte in Österreich (Marcus Omofuma, Cheibane Wague, Bakary J.) allesamt Schwarze Menschen betrafen und damit offenbar auch eine rassis tische Komponente ins Spiel kommt.

Auf Initiative des Menschenrechtsbeirats hatte sich das Bundesministerium für Inneres 2008 dazu durchgerungen, in mehrjähriger Kooperation mit Vertretern der Zivilgesellschaft das Spannungsfeld von polizeilicher Arbeit und Menschenrechten neu zu denken und ein menschenrechtlich fundiertes Berufsbild der Polizei zu entwickeln. In einem grundlegenden Dokument wurde die professionelle Verwirklichung der Menschenrechte als Kernaufgabe der Polizei definiert und in 24 Punkten im Einzelnen festgeschrieben.

Denkmuster, Wertehaltungen

Es ist hilfreich, in der Polizei nicht bloß einen rechtlich gebundenen Vollzugsapparat des staatlichen Gewaltmonopols zu sehen, sondern zugleich eine Organisation, und das heißt: ein lebendes System. Polizeiliches Handeln wird nicht allein von Gesetzen, detailreichen Erlässen oder Führungsentscheidungen bestimmt. Ebenso prägen das Verhalten, ungeschriebene Denkmuster, Werthaltungen und eingespielte Handlungsroutinen, die heute generell als Organisationskultur bezeichnet werden.

Für die österreichische Polizei liegen hinsichtlich dieser in formellen Wirkungsebene keine verlässlichen, empirisch gestützten Kenntnisse vor. Für die in ihrer staatsrechtlichen Positio nierung und kulturell vergleichbare deutsche Polizei hat der Polizeiwissenschafter Behr vor geschlagen, zwischen einer quasi offiziellen, oft in polizeilichen Leitbildern umschriebenen Polizeikultur und einer von den "handarbeitenden" Polizisten an der Basis des polizeilichen Alltagshandelns getragenen Polizistenkultur oder "Cop Culture" zu unterscheiden.

Die der polizeilichen Leitungsebene und ihren Sachbearbeitern als Handlungsorientierung zugeschriebene Polizeikultur dient wesentlich der Steuerung des staatlichen Gewaltmonopols im Wege seiner Einbindung in das rechtliche und bürokratische Normengefüge und ist getragen von einer distanzierten "Moral der Legalität". Die Cop Culture genannte Kultur der polizeilichen Ausführungsebene dagegen beschreibt Behr als stark praxis- und erlebnisorientiert, ihre Vermittlung erfolgt in informell-narrativen Formen. Auf dieser Kulturebene werde nicht nur das bürgernahe Moment der Anlaufstelle für alle und alles tradiert, sondern insbesondere auch jenes der kampfbereiten "Männer fürs Grobe" dort, wo niemand mehr sich hintraut.

Wie also ließe sich die praktische Polizeiarbeit in Einsatzsituationen an die polizeiintern entwickelten menschenrechtlichen Standards anbinden und wirkungsvoll weiterentwickeln? Drei Richtungen erscheinen vielversprechend: Auf dem Gebiet der traditionellen rechtlichen Steuerungsschiene wird die in der Regierungserklärung angekündigte Einrichtung einer eigenen, vom Innenministerium unabhängigen Ermittlungseinheit in multiprofessioneller Zusammensetzung für die Untersuchung von Misshandlungsvorwürfen ihre generalpräventive Wirkung nicht verfehlen.

Menschenrechtskultur

In alle weiteren Entwicklungs- und Umsetzungsmaßnahmen der menschenrechtlichen Ausrichtung der österreichischen Polizei sollte ausnahmslos auch die Ebene der sogenannten Cop Culture, also der ausführenden Polizeikräfte, miteinbezogen werden. Dies macht solche Vorhaben im Hinblick auf ihre kommunikative Gestaltung durchaus anspruchsvoll. Gelingt es aber, in respektvoller und anschlussfähiger Kommunikation aufeinander zuzugehen, so erschließen sich mögliche Resonanzräume (Hartmut Rosa) für die Entwicklung einer polizeilichen Menschenrechtskultur (Manfred Nowak).

Die außerordentlich hohe Beteiligung an der antirassistischen Demonstration am 4. Juni dieses Jahres hat möglicherweise nicht nur mit der erschreckenden Brutalität der rassistischen Tat in den USA selbst zu tun, sondern auch mit dem Wissen um die allseitige, in einer Kultur der Diskriminierung (Dieter Schimang) eingebettete Haltung gegenüber People of Colour auch hierzulande. Nicht zuletzt unter diesem Aspekt wäre es wünschenswert, wenn es der Polizei im Zusammenwirken mit der Zivilgesellschaft gelänge, unterhalb der Ebene straf- und disziplinarrechtlicher Verfahren Formen des lernorientierten, organisatorischen Fehlermanagements aufzubauen. (Alfred Zauner, 21.6.2020)