Unser Wirtschaftssystem ging bisher von endlosen Ressourcen aus.

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Oft schenken wir Zahlen und Daten zu wenig Aufmerksamkeit. Sie scheinen abstrakt, und wir können uns nicht immer etwas darunter vorstellen. Wie sehr jedoch das, was wir messen oder eben nicht messen, unser tägliches Leben bestimmen kann, wurde uns in den letzten Wochen vor Augen geführt. Fast alle im Land kennen nun den Covid-19-Replikationsfaktor. Infiziertenzahlen werden in den Nachrichten so selbstverständlich verlesen wie sonst jene der Lottoziehung.

Vielleicht sollten wir einer anderen Kennzahl, die seit Jahrzehnten unser Leben bestimmt, mehr Aufmerksamkeit schenken. Das Bruttoinlandsprodukt, kurz BIP, dient als Hauptgrundlage für weitweitreichende gesellschafts- und wirtschaftspolitische Entscheidungen.

Das Wachstum des BIP als alleinigen Wohlstands indikator zu verwenden greift zu kurz. Für die Gestaltung einer nachhaltigen und solidarischen Zukunft ist es überhaupt unzureichend. Schon seit mehreren Jahren argumentieren progressive Wirtschaftswissenschafter, wie der Nobelpreisträger Joe Stiglitz, dass wir das rein auf Quantität und Wachstum ausgerichtete BIP als Hauptindikator ablösen müssen. Bei einem Gespräch mit Stipendiatinnen und Stipendiaten des Europäischen Forums Alpbach letzten August erklärte Stiglitz, der auch heuer wieder dabei ist, anschaulich, dass wir unser Verhalten nur ändern können, wenn wir die Art und Weise ändern, wie wir unsere wirtschaftliche Leistung bzw. unsere gesellschaftliche Entwicklung messen. Irgendwie hatte ich damals den Eindruck, dass Stiglitz die Hoffnung, dass sich jemand trauen würde, das BIP tatsächlich vom Sockel zu stoßen, aufgegeben hatte.

Da stimmt was nicht

Nun wagt ein mutiger Staat einen Vorstoß. Als erste Indus trienation überhaupt hat die Regierung Neuseelands das BIP als Grundlage für ihre Ausgabenplanung abgeschafft. Der dortige Finanzminister präsentierte Ende Mai erstmals ein Budget, das sich nach einem neuen "Wellbeing Index" ausrichtet.

Der Regierung ist klar geworden, dass in ihrem Land, das über Jahre ein hohes Wirtschaftswachstum aufwies, aber im Vergleich zu anderen OECD-Ländern bei der Kinderarmut, bei Obdachlosenzahlen und Fällen häuslicher Gewalt schlecht abschnitt, etwas nicht stimmen konnte. Dieser "Wellbeing Index" bezieht nun Messwerte wie die psychische Gesundheit der Bevölkerung, soziale Komponenten und den ökologischen Zustand des Landes mit ein. Die Ausgaben der Regierung orientieren sich daran, inwieweit sie einem breiten gesellschaftlichen Wohlergehen dienlich sind.

Unser Wirtschaftssystem ging bisher von endlosen Ressourcen aus. Externalitäten, also Folgekosten wie zum Beispiel die Kosten von klimaschädigendem Verhalten, werden nicht in die Messung von wirtschaftlichem Erfolg eingepreist.

Wir brauchen dringend andere Leitplanken, um Strategien aus der Krise zu entwickeln. Zwischen dem wirtschaftsliberalen Marktmodell der USA und dem staatlich gelenkten System Chinas könnte Europa damit eine Vorreiterrolle in der Definition, Messung und Umsetzung einer nachhaltigen und sozialen Wirtschaft einnehmen. Unsere Daten und Statistiken bestimmen unsere Realität und unser Handeln in einem weit größeren Ausmaß, als wir denken. (Philippe Narval, 21.6.2020)