Keir Starmer steht vor einer Mammutaufgabe.

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Der neue Labour-Vorsitzende Keir Starmer sei "eindrucksvoll gestartet", heißt es im Leitartikel der "Times" am vergangenen Samstag – hohes Lob der einflussreichen Londoner Zeitung, die klar im konservativen Spektrum angesiedelt ist. Das "Projekt Starmer" gewinne an Fahrt, so in der dazugehörigen Analyse. In Umfragen hat der seit knapp drei Monaten amtierende 57-jährige Oppositionsführer mit Boris Johnson gleichgezogen, wenn es um die Frage nach dem besten Premierminister geht. Die konservative Regierungspartei ist von ihrem Höhenflug rund um die 50-Prozent-Marke abgestürzt auf 43 Prozent und liegt damit nur noch fünf Punkte vor Labour (38).

Freilich gibt es erhebliche Skepsis gegenüber den Sozialdemokraten: Der Firma YouGov zufolge sehen die Briten die Partei mehrheitlich (51 Prozent) noch nicht bereit für eine Regierungsübernahme. Und die guten persönlichen Werte für Starmer erklären sich, glauben Medien von rechts bis links, vor allem aus der Schwäche des derzeitigen Bewohners der Downing Street und seiner dilettantischen Corona-Politik.

Ursachen der Wahlniederlage

Kein Anlass zu bequemer Selbstzufriedenheit also, schon gar nicht nach Lektüre eines neuen Berichts über Ursachen und Folgen der verheerenden Wahlniederlage vom Dezember, als die alte Arbeiterpartei mit 32 Prozent der Stimmen wegen des Mehrheitswahlrechts so wenig Unterhausmandate gewann wie zuletzt 1935. Auf 153 Seiten blättern die Autoren der Gruppe "Labour Together" auf, was die Opposition erreichen muss, um bei der 2024 anstehenden Wahl einigermaßen glaubwürdig um die Macht streiten zu können: eine Renaissance in Schottland, wo zuletzt ein einziger Labour-Mann einen der 59 Wahlkreise ergattern konnte; eine Wiederbelebung in jenen Sitzen im Norden und der Mitte Englands, die jahrzehntelang als "rote Mauer" galten, diesmal aber an die Tories fielen; eine Versöhnung mit den wohlhabenden Regionen im Süden Englands, wo außerhalb der Metropolen Bristol und London nur mehr ein halbes Dutzend Labour-Abgeordnete von knapp 100 Tories dominiert werden.

Als Symbol für die im Wortsinn beispiellose Aufgabe steht der Wahlkreis im Nordosten der lieblichen Grafschaft Somerset. Seit 2010 vertritt ihn der betont rückwärtsgewandt auftretende Parlamentsminister Jacob Rees-Mogg im Parlament; seine Mehrheit vor dem Labour-Kandidaten betrug im Dezember satte 14.700 Stimmen. Sollte es in Schottland keinen "erheblichen Zugewinn" geben, so die Studie, müsste die Partei dem Minister das Mandat abluchsen, um beim nächsten Mal die Regierung stellen zu können.

Mandatsgewinn

Wie aber konnte es zu dem Schlamassel kommen? Immerhin hatte Starmers Vorgänger, der 71-jährige Jeremy Corbyn, in seinen viereinhalb Amtsjahren den Sozialdemokraten neue Energie eingehaucht. Labour zählt mehr als 550.000 Mitglieder und ist damit die größte politische Gruppierung Westeuropas. Entgegen allen Prognosen gewann der dezidiert linke Politiker ohne jede Regierungserfahrung 2017 erheblich Stimmen und Mandate hinzu, was der damaligen Premierministerin Theresa May die arbeitsfähige Parlamentsmehrheit raubte.

Selbst Kritiker schrieben den Erfolg Labours dezidiert sozialdemokratischem Programm zu: Die Leute seien für neue Ideen zu gewinnen. Hingegen erschien der Wählerschaft zweieinhalb Jahre später das Labour-Wahlmanifesto überladen und unbezahlbar, so die Kommission. Auch beurteilten die Briten Corbyn selbst überwältigend negativ – eine Entwicklung, die offenbar mit seiner allzu freundlichen Haltung gegenüber Putins Russland und den andauernden Antisemitismus-Vorwürfen gegen den langjährigen Israel-Kritiker und dessen Gesinnungsgenossen einherging.

Zudem habe die Parteizentrale handwerkliche Fehler begangen. Anstatt amtierenden Abgeordneten bei der Verteidigung ihrer Wahlkreise zu helfen, konzentrierten Corbyns Leute die knappen Finanzen auf völlig unrealistische Zugewinne. Immerhin 21 Bezirke gewannen die Torys mit Mehrheiten von weniger als 700 Stimmen. Dazu half ihnen nicht zuletzt der zwar unrealistische, aber eingängige Wahlslogan "Get Brexit done". Hingegen sei Labours Einstellung zum EU-Austritt selbst der Mehrheit der Mitglieder konfus erschienen, weshalb sowohl Brexit-Befürworter wie -Gegner der Partei in Scharen davonliefen.

Die Kommission mit Mitgliedern aller Parteiflügel weist auch auf langfristige Faktoren wie den Bevölkerungswandel und den Verlust sozialdemokratischer Stammwähler hin. Wie der neue Chef Starmer damit umgehen soll? Darauf bleiben die Autoren die Antwort schuldig. (Sebastian Borger aus London, 21.6.2020)