In Sewastopol wurde schon am 16. April für die Parade geübt, Wladimir Putin wachte darüber.

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Zwei politische Großereignisse werfen in Russland ihre Schatten voraus: Am Mittwoch, genau 75 Jahre nach der ersten Siegesparade auf dem Roten Platz, marschieren 14.000 Soldaten und rollen 220 Panzerfahrzeuge über den geschichtsträchtigen Ort. Die ursprünglich für den 9. Mai geplante und wegen der Corona-Krise abgesagte alljährliche Militärparade wird dann nachgeholt. Nur einen Tag später beginnt die eine Woche dauernde Abstimmung über Wladimir Putins neue Verfassung.

Sie ist ein durchaus eigenwilliges Dokument. Fordert sie doch an einer Stelle von den Russen Geschichtsvergessenheit ein, indem sie bei einer Beschränkung auf zwei Amtszeiten Putins bisherige Präsidentschaften auslöscht, während sie an anderer Stelle den "Schutz der historischen Wahrheit" deklariert.

Für Putin bezieht sich die "historische Wahrheit" vor allem auf die Interpretation des Zweiten Weltkriegs und ist durchaus eine Herzensangelegenheit des Kremlchefs. Welche Wahrheit künftig in Russland Alleingeltungsanspruch besitzt, hat Putin nun in einem Artikel für das konservative US-Journal The National Interest verdeutlicht.

Wirft Westen Geschichtsfälschung vor

Einmal mehr warf der 67-Jährige dem Westen darin Geschichtsfälschung vor. Der Kremlchef traf durchaus einen Punkt: Tatsächlich scheint es mitunter so, dass die Rolle der Sowjetunion beim Kampf gegen Hitlerdeutschland nicht genügend gewürdigt und eigene Versäumnisse im Vorfeld des Krieges nicht genügend aufgearbeitet werden.

Putin spricht in seinem Artikel explizit den Versailler Vertrag und das Münchner Abkommen von 1938 an. Das Abkommen, das er getreu der sowjetischen Sprachregelung Münchner Komplott nennt, stellt er dabei auf eine Ebene mit dem Hitler-Stalin-Pakt. Schließlich sei anschließend die Tschechoslowakei "brutal und zynisch" aufgeteilt worden, so Putin. Was der Kremlchef dabei nicht erwähnt: Großbritannien und Frankreich verfolgten mit ihrer zweifellos falschen Appeasement-Politik nicht das Ziel einer territorialen Expansion. Polen, dem Putin wegen der Annexion des zuvor tschechischen Teschener Landes Mitschuld am Ausbruch des Weltkriegs gibt, war am Münchner Abkommen nicht beteiligt.

Richtig verschwörungstheoretisch wird Geschichtslehrer Wladimir Putin dann, wenn er versucht, das geheime Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt mit der Aufteilung Osteuropas dadurch reinzuwaschen, dass er behauptet, es sei keinesfalls erwiesen, dass nicht auch andere Länder solche Geheimpakte geschlossen hätten. Hier richtet er den Verdacht explizit auf Großbritannien, das immer noch seine Archive zu den Verhandlungen geschlossen halte.

Baltikum-Annexion legitim

Den größten Aufruhr verursachte jedoch Putins Rechtfertigung der Annexion des Baltikums. Die "Inkorporation" Lettlands, Litauens und Estlands und der anschließende Beitritt dieser Länder zur Sowjetunion seien "auf vertraglicher Basis unter Zustimmung der gewählten Obrigkeit" zustande gekommen, teilte Putin dem verblüfften westlichen Publikum mit.

Doch diese Passage dürfte sich als Bumerang im russischen Bestreben erweisen, die Deutungshoheit über die Geschichte zu erlangen: Denn unbestritten ist, dass die Sowjetunion zunächst mit einem Ultimatum den Einmarsch der Roten Armee erzwang, ehe es die Regierungen der Baltenstaaten gegen Marionettenregime austauschte, die den Beitritt beantragten. Dass militärische Gewalt eine Option war, zeigt der sowjetische Angriff auf Finnland, nachdem Helsinki eine ebensolche Offerte, wie sie die Baltenstaaten angenommen hatten, ablehnte. Mit ähnlichen Worten hätte Putin auch den Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland rechtfertigen können.

Die Aussagen dürften dem Image Russlands als Friedensmacht keine Pluspunkte gebracht haben. Im Gegenteil: Die latenten – und durch Krim- und Donbass-Krisen gesteigerten – Ängste in Vilnius, Riga und Tallinn vor einer Wiederholung der Geschichte wurden durch die Rechtfertigung der Annexion nur gestärkt. (André Ballin aus Moskau, 23.6.2020)