Mich beschäftigt sehr, was auf den Straßen unserer Städte passiert. Jeden Tag Flashmobs. Wie aus dem Nichts plötzlich 500 Leute im sonst friedlichen nächtlichen Stuttgart oder 20.000 Leute auf einer Demo, bei der "normalerweise" nur 200 mitmachen. Gelbwesten, Anti-Flüchtlings-Demos, Extinction-Rebellion-Demos, Black-Lives-Matter-Demos. Und jetzt auch noch Anti-Corona-Masken-Demos? Und Demos gegen weitere Sicherheitsmaßnahmen?

Mit einigen Demos sympathisiere ich mehr als mit anderen. Aber eins ist sicher: Nie gab es so schnell so gigantisch große und gut organisierte Gruppen auf der Straße. Sind wir politischer denn je, oder sind wir einfach nur organisierter "Footfall"?

Sind wir politischer denn je, oder sind wir einfach nur organisierter "Footfall"?
Foto: www.corn.at Heribert CORN

Der Begriff "Footfall" ist mir erstmals dieses Frühjahr in einer sehr guten Doku zum Überwachungskapitalismus aufgefallen, wo ihn Shoshana Zuboff verwendet. Man könnte "Footfall" so definieren: Hat eine Person X das Verhalten gezeigt, zu dem man sie psychologisch manipuliert hat?

In der alten Werbewelt sah das in etwa so aus: Hat Herr X das Shampoo gekauft, das man ihm andrehen wollte? Dafür zeigte man ihm ein gefühlsstarkes Video, eine Werbung oder eine Influencer-Message, auf die er tiefenpsychologisch positiv ansprechen wird. Und wenn Herr X sich dann entsprechend motiviert fühlt und ins Geschäft geht, um das Shampoo zu kaufen, dann generiert er "Footfall". "Footfall" ist eine avancierte Form von "Conversion" (wie das Marketingfachleute nennen), die misst, ob sich der Kunde in der realen Welt so verhält, wie die Werbemessage es von ihm wollte.

Nun nehme man eine Welt, in der politische Kräfte etwas von Herrn X und anderen wollen; nicht etwa, dass er ein Shampoo kaufen soll. Nein, er (oder sie) soll auf eine Demo gehen. Dafür zeigt man ihm (oder ihr) ein gefühlsstarkes Video, eine Werbung oder eine Influencer-Message, auf die er tiefenpsychologisch positiv ansprechen wird. Und wenn Herr X sich dann entsprechend motiviert fühlt und auf die Demo geht, um für das entsprechende Anliegen zu protestieren, dann generiert er (oder sie) "Footfall".

Die Information, Menschen aufzuhetzen, steht digital zur Verfügung

Durch die Digitalisierung der Werbeindustrie sind in den letzten 20 Jahren riesige Pools an persönlichen Daten entstanden (Stichwort "Data Management Platforms"), die erlauben, uns wahrhaft "tiefenpsychologisch" zu analysieren. Der Wiener Aktivist Wolfie Christl fand heraus, dass Data Management Platforms gut und gerne mal 30.000 Daten über jeden von uns haben können. Gerade in der letzten Woche wurde so ein Datenpool von der Oracle-Tochter Bluekai gehackt, und es war von "Milliarden von Daten" die Rede, die über uns alle in vollstem Detail dort zur Verfügung stehen. Eine Spielwiese für Kräfte, die uns manipulieren wollen, denn jeder von uns hat Passionen für die eine oder andere Sache, politische Message, sexuelle Vorlieben und so weiter. Und eigentlich ist die Zeit ja auch reif für Veränderung.

Was passiert genau?

Ohne dass die hier am Werk befindliche "Schattenwirtschaft" es mir erlauben würde, zu 100 Prozent verlässliche Aussagen zu machen, vermute ich, dass es derzeit zu einem Zusammenspiel dieser digital nutzbaren Psychosozialprofile kommt (zum Beispiel: "Wer ist ein Anti-Staat-Typ?", "Wer ist ein Extinction-Rebellion-Typ?", "Wer ist ein Black-Lives-Matter-Typ?", "Wer ist ein Anti-Flüchtlings-Typ" et cetera). Und mithilfe gezielt erstellter Materialen (teilweise Fake-News) erreichen gezielt fabrizierte Messages diese "Interessentypen" am jeweiligen Ort, an dem die Demo organisiert werden soll. Die ehrlichen Organisatoren der Demos sind immer überrascht, dass in letzter Zeit so viele kommen. Aber wissen sie, dass ihre Veranstaltung vielleicht im Hintergrund in Wahrheit missbraucht wird? Im Hintergrund nicht unterstützt, weil es um ein ehrliches geteiltes Anliegen geht, sondern weil es Kräfte gibt, die nur eins wollen: uns alle auf die Straße zu schicken. Egal wofür.

Wer kann sich Demos wünschen, ohne ein echtes politisches Anliegen zu haben?

Im Rahmen des Brexits und der Trump-Wahl wurde schon häufiger diskutiert, dass es eine Reihe von massiv zersetzenden politischen Kräften gibt, die im Hintergrund bei der Mobilisierung und Inflationierung der Straße mitmachen. Der Fall Cambridge Analytica hat medienwirksam gezeigt, wie die Personal Data Markets und die sozialen Medien manipulativ gewirkt haben. Wenn man sich die "Spieler dahinter" anschaut, begegnet man Figuren wie Steve Bannon, Traditionalisten oder politischen Kräften, die sich ein Ende der Demokratie wünschen. Sehr eindrucksvoll dazu sind Dokus wie "The Great Hack", das Buch "Der unsichtbare Krieg" von Yvonne Hofstetter oder das neue Buch über Steve Bannon.

In diesen Dokumentationen und Büchern wird analysiert, wie einflussreiche Kräfte aktiv daran arbeiten, unsere Demokratien ins Wanken zu bringen. Ein klar formuliertes Ziel dabei ist, unsere Institutionen zu zerstören (also Polizei, staatliche Organisationen wie WHO et cetera). "Footfall" gegen den Staat und seine Institutionen scheinen also sehr in der Linie dieser Kräfte zu sein. Ebenso wäre eine zweite Corona-Welle (begünstigt durch das Zusammenkommen von Menschenmassen) für solche Kräfte mehr als wünschenswert, denn sie würde die Wirtschaft möglicherweise endgültig an den Rand des Abgrunds stellen.

Sollte man jetzt nicht mehr auf Demos gehen?

Eins ist sicher: Wir leben in einer hochpolitischen Zeit, und viele wünschen sich Veränderung. Die Straße ist ein wichtiger Bestandteil des demokratischen Diskurses. Aber jeder, der soziale Medien nutzt, sollte sich aus meiner Sicht vor dem Besuch einer Demo diese Fragen stellen:

Vertraue ich und kenne ich die Person, die mich über die Demo informiert? Kommt mir die "Botschaft" (Videonachricht oder Ähnliches), die mich motiviert mitzugehen, seriös vor? Oder enthält sie subtile Manipulation?

Außerdem sollte man über das Engagement eine Nacht schlafen und nicht spontan handeln. Wer wissen will – ganz nüchtern akademisch –, wie Footfall zustande kommt, kann sich dieses Video mit Hintergrund ansehen. (Sarah Spiekermann, 24.6.2020)