Natürlich kann man das Ganze auch einfach so machen. Und lustigerweise hatten sich genau an dem Tag, an dem Matthias Stiegls organisierter Laufevent bei mir und tausend anderen Leuten in den Social-Media-Timelines aufpoppte, in der STANDARD-Redaktion zwei Läufer mit exakt der gleichen Idee gemeldet. Allerdings ohne Teilnahmegebühr – und auch ohne App, falls man anderswo oder anderswann laufen wollen würde. Schließlich ist laufen einfach. In Wirklichkeit braucht man dafür auch weder Organisation noch Event: Man muss es nur tun.

Aber eine Idee, wo man läuft, schadet nicht: Natürlich kann man immer die gleiche Park- oder Häuserblockrunde abspulen – und damit zufrieden sein. Oder man probiert neue Routen aus – und irgendwann entdecken viele Menschen dann die Stadtachsen, etwa Wiens U-Bahn-Netz.

Foto: ©we run u-bahn

Ein Copyright auf Strecken gibt es nicht: Matthias Stiegl ist mit ziemlicher Sicherheit nicht der Erste, der das ganze U-Bahn-Netz Wiens abgelaufen ist.

Der Wiener Lehrer hat das schon mehrfach getan. Und zwar meist an einem Tag. Das machen ihm vermutlich nicht so viele nach – und das liegt nicht daran, dass das Wiener U-Bahn-Netz 2015, als Stiegl es das erste Mal abrannte, kürzer war als heute: Das U1-Teilstück vom Reumannplatz nach Oberlaa wurde erst am 2. September 2017 eröffnet. Aber diese 4,6 Kilometer machen das Kraut wohl auch nicht mehr fett: Insgesamt ist das Wiener Netz derzeit exakt 83,4 Kilometer lang – 78 sind auch nicht ohne.

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Doch Stiegl ist der Erste, der aus dem U-Bahn-Netz-Laufen eine Veranstaltung gemacht hat: Er speiste die fünf Linien so in eine App ein, dass man die Distanzen theoretisch auch anderswo und strukturiert laufen kann. Wer das Mitte Juni tat, konnte sich dabei nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit anderen messen, bekam danach eine Urkunde – und unterstützte durch seine oder ihre Teilnahme auch noch eine Charity-Organisation, das Wiener Kinderhospiz Netz.

Klar: Spenden kann man auch so. Laufen sowieso. Aber in der Regel tut man Ersteres dann nicht – und bleibt bei Letzterem eher ein Gewohnheitstier.

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Das bestätigten auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von "We Run U-Bahn", so hieß der Event offiziell, dem Organisator danach. Und auch wenn die 16 Frauen und Männer, die da insgesamt mitmachten und alle Strecken in einer Woche abliefen, und jene 35, die nur einzelne Linien liefen, nicht der Vienna City Marathon sind: 500 Euro für ein Kinderhospiz sind besser als nichts.

Und ganz abgesehen davon erweitert U-Bahn-Laufen den Horizont und das Stadtbild aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Denn wer kann schon sagen, dass er oder sie Siebenhirten und die Seestadt ebenso gut kennt wie Hütteldorf und Oberlaa. Und auch wenn man das Wiener U-Bahn-Netz irgendwann schon – kumuliert – vermutlich in seiner Gänze abgefahren ist: Wissen Sie tatsächlich, wie es da oben aussieht? (Ja, auch wenn nur die Hälfte der Strecken tatsächlich unterirdisch verläuft.)

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Ganz abgesehen davon lautete die Challenge ja auch, die knapp 90 Kilometer innerhalb von fünf Tagen zu schaffen: Das ist nicht ohne: "Als Hobbyläuferin, die selten mehr als ein- oder zweimal die Woche laufen geht, nahm ich den Lauf als Herausforderung an, um zu sehen, was alles mit Entschlossenheit, Hingabe, Selbstdisziplin und Anstrengung möglich ist", erzählte die Wienerin Elena Dax danach – und ist nicht nur wegen des "Durchlaufens trotz Knieschmerzen ab der U2 (außer bei roten Ampeln!)" stolz: "Die schönste Erfahrung war, mich voll und ganz auf mich selbst zu fokussieren und nebenbei neue, aber auch bekannte Gegenden zu beobachten."

Denn so ein Lauf, erklärt die Wienerin, sei auch ein Stück gelebter und erlebter Heimatkunde – obwohl man die Stadt doch eh kennt. Oder zu kennen meinte: "Ich bin beeindruckt von der Schönheit und Vielseitigkeit Wiens."

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Insgesamt war Dax 9 Stunden 43 Minuten und 52 Sekunden unterwegs. Meist allein und von Endstation zu Endstation, manchmal aber auch über Teilstücke mit Freundinnen oder Freunden: Das Gute an einem Lauf parallel zu öffentlichen Verkehrsmitteln ist ja auch, dass die Mitläuferinnen und Mitläufer sich nicht nur abwechseln, sondern auch ausrasten können – etwa wenn sie ein paar Stationen mit der U-Bahn fahren, bevor es in der Gruppe weitergeht: 109 Stopps gibt es in Wien – doch die, beschreibt Dax, sind nicht immer gleich: "Es war spannend, die gleichen Stationen (etwa Karlsplatz oder Praterstern) zu unterschiedlichen Uhrzeiten aus verschiedenen Richtungen zu besuchen."

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Ähnlich fiel auch das Fazit von Marion Truppe aus: "Dadurch, dass die Strecken durch die U-Bahn-Stationen in viele kurze Abschnitte unterteilt sind, kam mir die Gesamtstrecke gar nicht so lang vor." Das, so die Wienerin, habe ihre Motivation gesteigert – weil es Durchhänger zu vermeiden half. Aber vor allem ist da der Stolz der "Normalo"-Läuferin, etwas geschafft zu haben, was sie sich vorher nicht zugetraut hätte: "Ich hätte nicht gedacht, dass es mir möglich ist, innerhalb einer Woche das gesamte Wiener U-Bahn-Netz abzulaufen."

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Obwohl, räumt Truppe ein, da nicht nur die Kondition gefordert war: Truppe kämpfte auch mit dem Wetter – am ersten Tag Regen, zwischendurch Wind – und auch immer wieder Hitze (wie etwa hier, am Donaukanal). Nicht zuletzt deshalb lernte sie ein zweites, oft wenig beachtetes Stück Wiener Infrastruktur schätzen und lieben: das dichte Netz an öffentlichen Trinkbrunnen.

Aber ganz so einfach, wie es auf den ersten Blick auf den Plan gewirkt hat, seien die Läufe dann doch nicht gewesen: Auch wenn die Stationen in Wien nie wirklich weit auseinander liegen, kann man sich dann in Stadtvierteln, die man überirdisch nie besucht, irgendwann doch verlaufen: "Zwischen Meidling und Tscherttegasse verirrte ich mich: Hier gibt es einfach zu viele Schienen und zu wenige Brücken."

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Und die Seestadt, der Start der U2, meint Marion Truppe, sollte anders heißen: "Komplizierterer Einstieg als gedacht, da die Seestadt auch eine Zaunstadt ist – unzählige Baustellen und Baustellenzäune erschwerten unser Weiterkommen." Aber: "Mit ein wenig Suchen und über ein paar Umwege kamen wir dann aber doch bis zum Karlsplatz. Meinen ersten Sonnenbrand des Jahres habe ich mir bei dieser Gelegenheit auch gleich geholt."

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Ich selbst bin bei "We Run U-Bahn" nicht mitgelaufen. Das hätte mir zurzeit nicht in Trainings- und Zeitplan gepasst. Aber als Idee finde ich solche Initiativen toll – und empfehle die Nachahmung ausdrücklich. Mit oder ohne App, mit oder ohne Urkunde oder Spenden-Background:

Das Schöne an derartigen Läufen ist die Horizonterweiterung im Kleinen. Denn allein dadurch, dass man eine Strecke zu einer anderen Zeit oder technisch anders als sonst zurücklegt, ändern sich so gut wie alle Eindrücke: gehen, laufen, auf dem Rad – mit U-Bahn oder Auto? Da liegen nicht nur wegen der unterschiedlichen Geschwindigkeiten Welten dazwischen – obwohl man doch immer die gleichen, längst bekannten Orte sieht.

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Darum mein Tipp: Probieren Sie es aus. Es muss ja gar nicht eine ganze U-Bahn-Linie sein – ein paar Stationen genügen: Sie werden sich wundern, was Sie da plötzlich alles entdecken und sehen werden. Und darum geht es.

(Und falls Sie sich fragen, was aus den beiden Läufern wurde, die zeitgleich mit Matthias Stiegls organisiertem U-Bahn-Lauf ebenfalls mit diesem Plan vorstellig wurden: Ich weiß es nicht. Nach ein paar Telefonaten riss der Kontakt ab. Leider – aber nicht ganz untypisch: Manche Pläne setzt man dann eben doch leichter um, wenn dahinter eine organisierte Struktur steht. Ich hoffe aber, die beiden sind trotzdem gelaufen.)

(Thomas Rottenberg, 24.6.2020)

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