Im Proton steckt mehr als man bisher dachte, wie Forscher anhand von Messungen am Teilchenbeschleuniger des europäischen Kernforschungszentrums CERN rekonstruierten.

Illustr.: CERN/ATLAS and CMS

Graz/Wien – Teilchenphysiker erklären sich die elementaren Bausteine und Kraftfelder unserer Welt mithilfe eines komplexen Modells. Dieses sogenannte Standardmodell der Teilchenphysik könnte im Hinblick auf die Protonen durch neue Erkenntnisse österreichischer Physiker eine Erweiterung erfahren, denn offenbar stecken im Atomkern mehr Elementarteilchen als bisher angenommen. Forscher der Universität Graz haben gemeinsam mit Kollegen der Universität Wien und dem Institut für Hochenergiephysik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften im Fachjournal "Physical Review D" nachgewiesen, dass zusätzlich zu den bereits bekannten Quarks ein Higgs-Teilchen im Proton existieren sollte.

CERN-Daten aus Grundlage

Im Kern eines Atoms befinden sich Neutronen und Protonen. Diese setzen sich aus weiteren Elementarteilchen zusammen, nämlich jeweils aus drei Quarks. "Es war bisher bekannt, dass ein Proton aus drei Quarks besteht und dass dort viele Quanteneffekte stattfinden", meint der Grazer Teilchenphysiker Axel Maas vom Institut für Physik der Uni Graz. Wie er zusammen mit seinem Institutskollegen Simon Fernbach und Wissenschaftern aus Wien anhand von Messungen am Teilchenbeschleuniger des europäischen Kernforschungszentrums CERN rekonstruiert hat, deuten die Auswertungen nunmehr auf ein Higgs-Teilchen als vierte Komponente hin. "Das ist verträglich mit dem, was wir bis jetzt wissen. Es ergänzt und erweitert unser Bild vom Proton", so der Forscher. Ausgewertet wurden Daten der Atlas- und CMS-Experimente.

Für genauere Untersuchungen und eine endgültige Bestätigung der Berechnungen zum Higgs-Boson werde allerdings ein Ausbau des Large Hadron Collider (LHC) im französisch-schweizerischen Grenzgebiet bei Genf benötigt. Dann wollen die Forscher die exakte Größe des Anteils, den das Higgs-Boson am Proton hat, bestimmen. "Bis dahin geht uns die Arbeit nicht aus. Wir werden weitere Daten auswerten, die bereits existieren", sagt Axel Maas.

Higgs-Partikel verleihen Masse

Das Higgs-Boson wurde 2012 am CERN nachgewiesen und wird seither intensiv weiter erforscht. Es ist ein Elementarteilchen und einer der wichtigsten Bausteine des Standardmodells der Physik: Mit dem von dem Briten Peter Higgs 1964 vorgeschlagenen Higgs-Mechanismus wird erklärt, wie die anderen Teilchen – also die Grundbausteine der Materie – ihre Masse erhalten. Higgs und François Englert wurden dafür 2013 der Nobelpreis für Physik verliehen.

Physiker veranschaulichen die Funktionsweise des Higgs-Bosons mit einer Cocktailparty: Die Teilnehmer einer politischen Feier sind in einem Raum gleichmäßig verteilt. Plötzlich kommt Margaret Thatcher herein und schreitet durch die Menge; augenblicklich bildet sich eine große Traube an Partygästen um sie. Dadurch erhält sie eine größere Masse. Läuft sie weiter, treten Partyteilnehmer, denen sie sich nähert, auf sie zu. Andere, von denen sie sich entfernt, wenden sich von ihr ab und wieder ihren ursprünglichen Gesprächspartnern zu.

Die Physiker vergleichen das Higgs-Boson mit einem Gerücht, das die Runde durch den Partyraum macht: Der Raum selbst ist das Higgs-Feld. Das Gerücht beginnt in einer Ecke, Leute stecken die Köpfe zusammen, um es zu hören. Dann wandert es in Richtung der anderen Ecke – als Zusammenballung von Menschen. Solche das Gerücht weitertragenden Zusammenballungen waren es letztlich auch, die der Ex-Premierministerin Thatcher Masse verliehen haben. Thatcher war ein Teilchen, das Masse bekam. Das Gerücht, Symbol des Higgs-Bosons, bildet ebenfalls Cluster und muss demnach eine Masse haben. (red, APA, 23.6.2020)