Herzinfarkte lassen sich gut behandeln. Langfristige Schäden lassen sich vermeiden. In der Corona-Pandemie kamen viele Herzinfarktpatienten nicht ins Spital – aus Angst vor einer Infektion.

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Christian Hengstenberg leitet die Klinische Abteilung für Kardiologie an der Universitätsklinik für Innere Medizin II am Allgemeinen Krankenhaus in Wien. Er ist Mitbegründer der Initiative "Meine Herzklappe". Die Arzt-Patienten-Plattform soll mehr Bewusstsein für Herzklappenerkrankungen schaffen.

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STANDARD: Eine der großen Überraschungen in der Corona-Pandemie war die Tatsache, dass die Anzahl der Herzinfarkte während des Lockdowns massiv zurückging. Gibt es zu diesem Phänomen neue Erkenntnisse?

Hengstenberg: Es ist tatsächlich so: Während des Lockdowns sind wesentlich weniger Patienten mit Herzbeschwerden ins Spital gekommen. Diese Beobachtung wurde nicht nur in Wien, sondern in ganz Österreich und sogar in ganz Europa gemacht. Überall hatten die Leute Angst, sich in den Krankenhäusern anzustecken. Diese Angst war so groß, dass sie ihre Herzbeschwerden lieber ignorierten.

STANDARD: Welche Folgen hat das?

Hengstenberg: Jetzt, wo die kardiologische Versorgung wieder in einem nahezu normalen Umfang möglich ist, sehen wir hier am AKH wesentlich mehr Patienten mit starken Schädigungen am Herzen. Es sind Personen, die bei den ersten Anzeichen der Beschwerden nicht zum Arzt oder ins Spital gegangen sind und insofern auch nicht adäquat versorgt werden konnten. Das Ergebnis sind Schäden am Herzmuskel. Sie wären vermeidbar gewesen.

STANDARD: Könnten Sie ein Beispiel dafür geben?

Hengstenberg: Sehr eindrücklich ist der Fall eines 45-jährigen Mannes, der während des Lockdowns starke Brustschmerzen bekommen hat und sie eineinhalb Tage lang ausgehalten hat, weil er zu große Angst hatte, ins Krankenhaus zu kommen. Er ist Raucher, vermutlich hatte er auch deshalb Sorge wegen seiner Lunge. Doch dann wurden seine Beschwerden so stark, dass er zwei Tage nach den ersten Symptomen sich doch entschloss, ärztliche Hilfe zu suchen. Er hatte einen Infarkt erlitten, der aber bereits abgelaufen war. Wir stellten vernarbtes Gewebe fest und konnten jene Maßnahmen, die wir bei Infarkten sonst setzen, gar nicht mehr machen.

STANDARD: Was genau hätten Sie machen können?

Hengstenberg: Bei Herzinfarktpatienten ist ein Herzkranzgefäß verschlossen. Dies ist ein Blutgefäß rund um das Herz, das das Herz mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt. Wir können dieses im Herzkatheterlabor wiedereröffnen und aufdehnen, sodass die Blutversorgung wiederhergestellt ist. Hierbei ist es extrem wichtig, dass der Patient möglichst rasch im Spital behandelt wird. Wird das Gefäß nicht eröffnet, geht das Herzmuskelgewebe zugrunde und vernarbt. Und diese Vernarbungen führen dann dazu, dass sich bei Patienten eine Herzschwäche entwickelt. Und die lässt sich nicht mehr rückgängig machen.

STANDARD: Schlägt sich diese Versorgungslücke von Herzpatienten in der Statistik nieder?

Hengstenberg: Das werden wir erst in der Jahresstatistik sehen. Letztendlich wird sich das in den Daten der Statistik Austria in den Todesfällen niederschlagen. Es wird dort auch erhoben, woran die Menschen gestorben sind. Wir hatten ja auch Herzpatienten, die starben, weil sie zu lange gezögert haben, ins Krankenhaus zu kommen.

STANDARD: Das gab es?

Hengstenberg: Leider. Der Pandemieplan sah vor, dass wir nur die akuten Patienten behandeln, also alle nicht wirklich dringenden Fälle nach hinten verschieben. Das mussten wir auch bei einem Patienten, von dem wir wussten, dass er eine hochgradige Einengung und Verkalkung der Aortenklappe hatte. Er bekam dann Beschwerden, ignorierte sie, kam aber dann doch. Nur, bedauerlicherweise ist er auf der Fahrt ins Spital verstorben. Solche Situationen bereiten uns sehr große Sorgen.

STANDARD: Sie meinen den schwierigen Balanceakt einzuschätzen, was akut ist und was nicht ganz so akut ist?

Hengstenberg: Wir wissen, dass die Corona-Pandemie noch nicht vorüber ist. Derzeit kann niemand genau sagen, wie sich die Dinge entwickeln. Unsere Aufgabe als Kardiologen wird weiter eine Gratwanderung sein. Die große Frage ist es, wie wir Hochrisikopatienten dazu bringen, zur rechten Zeit ins Spital zu kommen. Und was in einer Pandemie als "akut" zu bezeichnen ist. In jedem Fall müssen Patienten ihre Angst vor einer Ansteckung überwinden. In den Spitälern versuchen wir alles nur Mögliche, um die Patienten, aber auch die Mitarbeiter vor einer Infektion so gut wie möglich zu schützen. Derzeit sehen wir in unseren Herzkatheterlaboren eindeutig, wie negativ es sich auswirkt, wenn Herzpatienten ihre Beschwerden ignorieren.

STANDARD: Gibt es einen Vergleich zu Vor-Corona-Zeiten?

Hengstenberg: Im Vergleich zu einem normalen Monat vor Corona kamen während des Lockdowns etwa 40 Prozent weniger Patienten wegen akuter Herzprobleme ins Spital. Derzeit arbeiten wir den Rückstau der Patienten im Herzkatheter ab.

STANDARD: Für alle, die nicht genau wissen, was ein Herzkatheter ist, können Sie das kurz erklären?

Hengstenberg: Der Herzkatheter ist eine Behandlungsmethode, die es uns ermöglicht, die Herzkranzgefäße von Patienten darzustellen und möglicherweise quasi von innen zu reparieren. Ohne große Operation. In diesen Herzkatheterlaboren ist derzeit extrem viel los, wir sehen viele stark geschädigte Herzen. Alarmiert durch die Entwicklungen während des Lockdowns werden derzeit bundesweit die Daten sehr sorgfältig erfasst. Wir werden in den nächsten Monaten sehen, wie sich die Situation entwickelt.

STANDARD: Was wäre aus Patientensicht ein verantwortungsvoller Umgang mit dem eigenen Herzen oder, anders gefragt: Wann sollte man unbedingt ins Spital?

Hengstenberg: Es gibt einige klare Vorzeichen: Schmerzen oder Beklemmungsgefühle in der Brust, aber auch ein deutlicher Leistungsverlust sind Hinweise, dass etwas mit dem Herzen nicht in Ordnung sein könnte. Etwa auch Luftnot beim Stiegensteigen. Auch eine Ohnmacht ist ein deutliches Alarmzeichen und sollte in gar keinem Fall unterschätzt oder ignoriert werden.

STANDARD: Das sind relativ akute Symptome. Gibt es Vorsorgeuntersuchungen, die mögliche Schäden am Herzen frühzeitig erkennen lassen?

Hengstenberg: Personen ab etwa dem 55. Lebensjahr sollten mehr Aufmerksamkeit auf ihre Herzgesundheit legen. Genau das ist auch die Botschaft, die wir mit der Kampagne "#Hör auf dein Herz" der internationalen Allianz der Herzpatientenorganisationen, Global Heart Hub, erreichen wollen. Es ist vor allem auch eine Botschaft an alle Ärzte, das Herz ihrer Patienten ganz bewusst abzuhören. Wenn da ein Geräusch ist, sollte man die Personen unbedingt zu Kardiologen überweisen. Die Initiative "Meine Herzklappe" ist als Arzt-Patienten-Plattform ins Leben gerufen worden, um mehr Bewusstsein für die gravierende Bedeutung von Herzerkrankungen zu schaffen.

STANDARD: Warum eigentlich Herzklappe?

Hengstenberg: Weil es nicht nur in den Herzkranzgefäßen zu Problemen kommt, sondern auch die Herzklappen mit den Lebensjahren Schaden nehmen können. Das Herz schlägt etwa 100.000-mal am Tag. Die vier Herzklappen sorgen dafür, dass das Blut in die richtige Richtung fließt und es zu keinem Rückfluss kommt. Im Alter können die Herzklappen verkalken oder undicht werden. Beides lässt sich gut behandeln, und darum geht es: Probleme vermeiden, bevor sie gröbere Schäden anrichten.

STANDARD: Kann diese Behandlung auch durch die interventionelle Kardiologie erfolgen, also durch den Herzkatheter?

Hengstenberg: Genau. Wir können bei Patienten mit hohem Operationsrisiko die Herzklappen über einen Zugang in den Leistengefäßen wieder reparieren. Hierbei werden bei der Aortenklappe neue Herzklappen eingesetzt oder bei der Mitralklappe mit winzigen Klammern abgedichtet.

STANDARD: Sind solche Eingriffe mit Herzkatheter riskant?

Hengstenberg: Wir haben sehr viel Erfahrung und können das Risiko für einen individuellen Patienten sehr gut abschätzen. Diese Einschätzung findet in einem interdisziplinären Team mit den Herzchirurgen statt. Das macht die Reparatur von Herzklappen über einen Herzkatheter tatsächlich zu einer sehr sicheren Behandlung. Wir behandeln damit auch viele ältere Patienten und verbessern deren Lebensqualität.

STANDARD: Die Corona-Krise hat ja auch gezeigt, dass besonders Herz-Kreislauf-Patienten ein besonders hohes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben. Warum ist das aus kardiologischer Sicht so?

Hengstenberg: Es ist richtig, dass bei den Personen, die schwer an Covid erkrankt sind, viele Patienten mit Herzkrankheiten waren. Wir wissen auch, dass besonders ältere Personen ein erhöhtes Risiko für eine Covid-Erkrankung haben. Dies scheint also eine starke Assoziation zu sein, und es wird derzeit untersucht, ob es auch eine direkte Schädigung des Herzens durch Covid gibt. Wir sehen jedenfalls in der akuten Infektion einen teils deutlichen Anstieg der Herzenzyme als starken Hinweis für eine Mitbeteiligung des Herzens.

STANDARD: Es gab in der Corona-Pandemie die sehr kontroversielle Warnung vor ACE-2-Hemmern, weil sie angeblich schwere Verläufe begünstigen. Gibt es neue Erkenntnisse zu den Blutdrucksenkern, die ja doch massiv dazu beitragen, dass Leute weniger Herzinfarkte bekommen?

Hengstenberg: Es ist richtig, dass diese Diskussion kurzzeitig bestand. Es gab aber sehr schnell die klare Aussage der europäischen und auch der österreichischen Kardiologen-Gesellschaft, dass dieser Zusammenhang sehr unklar ist und dass der positive Effekt der guten Blutdruckeinstellung nicht durch Absetzen des Medikaments gefährdet werden darf. Wir haben uns auch bemüht, diese Aussagen möglichst weit publik zu machen, und haben sie auf die Homepage der kardiologischen Klinik und von "Meine Herzklappe" gestellt. (Karin Pollack, 25.6.2020)