Bei der Demonstration am Rabin-Platz halten sich die Protestierenden an die Abstandregeln.

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Oded Hon Honigwachs und sein Transparent mit der Aufschrift: "Bibi, verzieh dich für immer in Quarantäne"

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"Bagel, heiße Bagel!" Der Mann mit dem Schweißteppich auf der Stirn bugsiert einen großen Karton mit Backware durch die Demonstrantenmenge. Es ist ein harter Job, aber am Dienstagabend am Tel Aviver Rabin-Platz hat er es leichter. Es herrscht kein arges Gedränge, obwohl es eigentlich eine Großdemonstration hätte werden sollen. Wohlwollend könnte man sagen, es liegt am Social Distancing. Das ist ein Teil der Wahrheit. Der andere ist: Eine Demonstration gegen die drohende Annexion von Teilen des Westjordanlandes lockt in Israel weniger Menschen auf die Straße als andere Themen.

Rund dreißig Prozent sprechen sich in Umfragen gegen eine Annexion aus, aber nur vier Prozent bezeichnen das Thema laut einer jüngsten Erhebung als eines der dringendsten Probleme des Landes. Der Zeitpunkt rückt indes näher: Schon in einer Woche, ab 1. Juli, will Israels Regierung die Teilannexion in die Wege leiten.

Gebiete noch unklar

Vier Gruppen haben in Israel ein brennendes Interesse an der Frage: die Palästinenser, deren Bewegungsfreiheit trotz gegenteiliger Beteuerungen durch die israelische Regierung noch stärker eingeschränkt wäre, als das jetzt schon der Fall ist. Die Siedler im Westjordanland, die eine Annexion zwar befürworten, aber nicht unbedingt in der Form, wie sie die derzeit ventilierten Pläne vorschlagen. Israels Sicherheitsapparat, der in einer Annexion wenige Vorteile, dafür hohe Risiken sieht. Und schließlich Israels politische Kräfte, die eine Annexion mehrheitlich unterstützen. Wobei auch sie noch nicht wissen, wovon eigentlich die Rede ist. Welche Gebiete konkret betroffen wären, muss erst in Gesprächen zwischen Israel und den USA definiert werden.

Die Demonstration Dienstagabend auf dem Rabin-Platz in Tel Aviv mag keine Riesen-Rallye sein, die Anwesenden stehen dafür umso eindringlicher für ihre Sache ein. "Die Annexion vernichtet den Frieden, die Annexion bringt Krieg", ruft Oded Hon Honigwachs, ein pensionierter Anwalt, der mehrere Kriege erlebt hat.

"Es ist ja nicht so, dass es nicht schon vor Netanjahu Rechtspolitiker gegeben hat, die eine Annexion wollten", sagt er zum STANDARD. "Sie haben es aus einem Grund nicht gemacht: weil es zu gefährlich ist."

Warum es trotzdem nur eine Minderheit ist, die den Plan ablehnt? "Weil die Leute nicht weiter denken als bis einen Meter vor ihren Füßen", meint Honigwachs. Das sei auch nachvollziehbar angesichts der Corona-Krise und der Existenzsorgen, die sie bringt.

Demonstrationen gegen Justiz

Nur ein paar Kilometer entfernt vom Rabin-Platz hingegen marschieren zeitgleich rechte Israelis auf und protestieren gegen das, was sie eine "Richterdiktatur" nennen. Es ist eine der regelmäßigen Demonstrationen gegen die Justiz, Hintergrund ist der Strafprozess gegen Benjamin Netanjahu. Auf ihren Transparenten werfen die Demonstranten den Richtern "Verhetzung" vor. Sie folgen dabei jener Opferrhetorik, die Netanjahu von Anfang an eingesetzt hat, um die strafrechtlichen Vorwürfe, die sich auf über 300 belastende Zeugenaussagen stützen, zu delegitimieren.

Beide Demonstrationen spielen sich in überschaubaren Dimensionen ab, und das Polizeiaufgebot hält sich in Grenzen. Die Polizei hat aber ohnehin anderes zu tun: Sie muss die Maskenpflicht im öffentlichen Raum nun strenger exekutieren. Am Dienstag zählte Israel den stärksten Anstieg an neuen Corona-Fällen in zwei Monaten. Ganze 495 bestätigte Neuinfektionen kamen hinzu – im Mai stand das Land bei rund zwanzig neuen Ansteckungen pro Tag. Über mehrere Gemeinden in Israel und Westjordanland wurde in den vergangenen Tagen ein partieller Lockdown verhängt. Die Sorge, was eine Teilannexion für Israels Sicherheit längerfristig bedeuten könnte, wird von der Angst vor der zweiten Corona-Welle überschattet. (Maria Sterkl aus Tel Aviv, 24.6.2020)