In Paris entdeckt Walter Benjamin die ungeahnten Energien einer entfesselten Wortkunst: die Schriften der Surrealisten rund um André Breton.

Foto: Akademie der Künste, Berlin

"Die Kräfte des Rausches für die Revolution zu gewinnen": Man hat Kuppler, die zwischen entlegenen Ideen amouröse Verbindungen herstellen, schon kläglich scheitern gesehen. Walter Benjamins berüchtigter "Sürrealismus"-Aufsatz – echt nur mit Umlaut als erstem Vokal – erschien 1929. In ihm und durch ihn bestimmte der jüdische Autor sein akutes Erkenntnisinteresse: Die moderne, von Ausbeutung und Entzauberung geplagte Welt soll, in einem Akt allseitigen Erwachens, ihre Augen auch gegen den hin aufschließen, der (neue) Erfahrungen zu machen gewillt ist.

Benjamins Aufsatz trägt nicht von ungefähr den Untertitel: "Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz". Bereits in den frühen 1920ern stürzte sich Benjamin in umfassende Lektüren der tumultuösen, von Traumarbeit und planvoll entfesselter Absurdität gekennzeichneten Schriften der französischen Avantgarde-Dichter: André Bretons, Louis Aragons, Philippe Soupaults oder Paul Eluards.

An ihnen allen reizt Benjamin die Überwindung jeder bloß künstlerischen Rücksicht. Die Welt soll die Sensationen preisgegeben, die man ihr gewaltsam entreißt: "Hinreißende Plünderungstage" (Breton) verwandeln Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhundert, in eine Deponie der Bilder. Wer sich dieser bemächtigt, den springen die Dinge, erlöst von der Idee ihrer reinen Nützlichkeit, förmlich an. Ausgerechnet das Veraltete, schmählich Überholte setzt dann unvorstellbare revolutionäre Energien frei.

Außer Kraft gesetzt

Indem der Surrealismus alle möglichen Tricks mobilisiert, um die Alltagsvernunft außer Kraft zu setzen, beschert er seinen Anhängern lauter kleine, profane Erleuchtungen. An dieser Schnitt- und Schaltstelle zwischen Traum und Wirklichkeit, in "menschenleeren Straßen, in denen Pfiffe und Schüsse die Entscheidung diktieren", passiert der geheimnisvolle Umschlag: Was die Bürger bloß noch historisch dünkt, erweist sich seinem Wesen nach plötzlich als strikt politisch.

Den revolutionären Energien, die ausgerechnet im "Veralteten" aufscheinen, gehört Walter Benjamins ganze Aufmerksamkeit. Nur innerhalb solcher Bilder tritt das Utopische mit dem Ur-Geschichtlichen in eigentümlicher Legierung verschmolzen auf. In den "unerdenklichen Analogien und Verschränkungen von Geschehnissen", die die Surrealisten aufgrund ihrer Wortmagie erzeugen, hält die kleine Welt auf die große, von jeder Fron und Gewalt erlöste, vorauseilend ihre Probe.

Einen "Paravent" vor der Arbeit an seinen (unvollendet gebliebenen) "Passagen" nannte Benjamin den "Sürrealismus"-Essay. Dieser enthält selbst alle Ingredienzien eines intellektuellen Fiebertraums: Sein Autor sucht international nach Anschlussstellen, um seine Intuition auf eine nächsthöhere Ebene zu heben.

Geschichte und Gegenwart sollen miteinander verschränkt werden, in einer "Welt allseitiger und integraler Aktualität". Die Physis der Kreatur und die Psyche "des inneren Menschen" wären in eins zu setzen, von einer revolutionären Intelligenz auf wundersame Weise "in Funktion gesetzt". Noch tastete Benjamin sich den Weg nur entlang; noch ist ihm der gesuchte Bezirk etwas zwischen "Bildraum" und "Leibraum", ein geheimnisvoller Ort wechselseitiger Aufhebung und Durchdringung. Sein Freund und Briefpartner Theodor W. Adorno schilt ihn regelrecht für den undialektischen Gebrauch wichtiger Schlüsselbegriffe.

Aber Benjamin weiß sich nunmehr auf dem richtigen Pfad. Er hat die wesentlichen Erfahrungen für sein anthropologisches Titanenwerk gesammelt. Er hat die Gesichtspunkte der rauschhaften Energetik, der profanen Erleuchtung, der unabgegoltenen Möglichkeiten im (scheinbar) Veralteten gefunden.

Der ominöse Wecker

Es ist nun an der Menschheit, "sich die Augen reibend" zu einem wahren, besseren Leben zu erwachen. Jetzt muss sich die Wirklichkeit nur noch selbst übertreffen. Das Alarmsignal hat sie bereits erhalten: Der Wecker der Surrealisten schlägt jede Minute sechzig Sekunden lang an. Doch es wäre nicht Benjamin, wenn er das primitive Erlebnis des Wachläutens nicht noch eigentümlich umschmölze. Es handelt sich nämlich um eine Verkehrung des Bildes: Sie, die Surrealisten, geben "Mann für Mann, ihr Mienenspiel im Tausch gegen das Zifferblatt" des ominösen Weckers. (Ronald Pohl, 25.6.2020)