Die Bevölkerung des Dritten Reichs wurde massiv mittels Plakaten, Filmen und Zeitungsartikeln dazu angehalten, kein Wissen weiterzugeben, das sie durch ihre Arbeit oder in ihrem Alltag erlangt hatte. Jede noch so kleine Information konnte gemäß der nationalsozialistischen Behörden dem Feind einen Vorteil verschaffen.

Kellertür, an der noch heute der Hinweis für die damalige Bevölkerung hängt, verschwiegen zu sein.
Foto: Thomas Keplinger

Gefährliches Verplappern

Was geschah, wenn tatsächlich jemand absichtlich oder unabsichtlich ein Staatsgeheimnis verriet und dabei erwischt wurde? Da dieses Vergehen als Landesverrat galt, fiel das Verfahren in die Zuständigkeit des Volksgerichtshofes (VGH). Dieser war zuständig für Hoch- und Landesverrat, Wehrmittelbeschädigung, Wirtschaftssabotage, ab 1941 auch für Spionage, Freischärlerei, Wehrkraftzersetzung oder Fahnenflucht und andere überwiegend politische Delikte.[1]

Der Delinquent geriet damit in einen Verfahrensablauf, der potenziell tödlich enden konnte: Die zuständige Staatsanwaltschaft meldete den Fall eines Hoch- oder Landesverrats an die Oberreichsanwaltschaft in Berlin. Dort wurde entschieden, ob der jeweilige Fall durch einen Senat des Volksgerichtshofs verhandelt werden sollte, der seit 20. Juni 1938 auch für Österreich zuständig war. Der Sitz des VGH befand sich in Berlin. Bis zu sechs Senate waren mit der Rechtssprechung befasst, die auch als „fliegende Senate“ in anderen Städten ihre Urteile fällten. Der zweite, dritte und fünfte Senat des VGH verhandelte in Wien, der sechste ab 1943 in Graz. Meist reisten diese „fliegenden Senate“ per Bahn für eine Woche an und bearbeiteten kumuliert in diesem Zeitraum mehrere Verfahren. Diese Senate bestanden aus zwei Berufsrichtern und drei Laienrichtern. Letztere rekrutierten sich aus Funktionären der NSDAP, höheren Militärs oder Beamten. Ihre Ernennung erfolgte nach Vorschlag des Justizministeriums durch Adolf Hitler.


Teilte die Oberreichsanwaltschaft den Fall nicht dem VGH zu, so kam er an das Oberlandesgericht (OLG) Wien oder ab Oktober 1944 auch an das OLG Graz, das für Kärnten und die Steiermark zuständig war. Die Oberreichsanwaltschaft konnte aber genauso gut die Einstellung des Verfahrens veranlassen, wenn es die Sachlage als nicht verhandelbar oder verhandlungswürdig erkannte.

Diese Entscheidung der Oberreichsanwaltschaft war für den Angeklagten von höchster Bedeutung, denn nach 1940 fällten die Senate des Volksgerichtshofs in mindestens 40 Prozent aller Verhandlungen ein Todesurteil, während am OLG Wien diese Quote bei etwa 0,4 Prozent lag – von 4.163 Verhandlungen in Wien endeten etwa 17 mit einem Todesurteil. Der große Rest kam mit Zuchthaus davon. Wurde der Fall eines „österreichischen“ Landesverräters also vor dem OLG Wien verhandelt, so standen die Chancen relativ gut, wenigstens in nicht schwerwiegenden Fällen mit dem Leben davonzukommen, während ihn bei einer Verhandlung durch einen Senat des VGH eine viel schlechtere Chance erwartete.

Bessere Überlebenschancen in Wien

Der langjährige Vizepräsident des Volksgerichtshofs, Karl Engert, beschrieb dessen Rolle 1939 so: "Man kann den Volksgerichtshof wohl als ein politisches Gericht bezeichnen, und zwar schon deshalb, weil er das einzige Gericht in Deutschland ist, das die schweren Hoch- und Landesverratsverbrechen abzuurteilen hat. [...] Darum müssen wir auch von allen Richtern dieses Gerichtshofes und von allen Vertretern der Anklagebehörde verlangen, daß sie in erster Linie Politiker und dann erst Richter und nicht umgekehrt sind. [...] So wie die Wehrmacht den äußeren Bestand des Staates zu sichern hat, so hat der Volksgerichtshof diese Verpflichtung nach innen hin in Verbindung mit der Geheimen Staatspolizei."

Wie hoch war nun aber die Wahrscheinlichkeit für den Angeklagten, vor das OLG Wien gestellt zu werden und nicht vor den Volksgerichtshof? Sie lag bei etwa 66 Prozent – zwei Drittel der Fälle wurden vom OLG verhandelt, der Rest vom VGH.
Dazu ein interessantes Beispiel: Die Quote zwischen den Verhandlungen, die am Oberlandesgericht und jenen, die durch den Volksgerichtshof geführt wurden, war im deutschen Bundesland Hessen um ein Vielfaches niedriger. Dort wurden etwa 93 Prozent am OLG verhandelt und nur die restlichen sieben Prozent in Berlin.
Die Begründung für diese Ungleichheit liegt im Status Österreichs als „angeschlossenem“ Staat begraben. Die deutschen Justizbehörden betrachteten Fälle des Hoch- und Landesverrats, die in Österreich begangen wurden, als schwerwiegender und gefährlicher als jene, die aus dem „Altreich“ gemeldet wurden.

"Aus Mangel an Beweisen"

Die folgenden Zahlenangaben beruhen auf den Erkenntnissen der neuesten Forschung, sind aber aufgrund fehlender Akten, vor allem aus dem OLG Graz, mit einem gewissen, wenn auch nur kleinen Fehler behaftet.

Zwischen Juli 1938 und April 1945 kamen mindestens 6.336 österreichische Angeklagte wegen Hoch- und Landesverrats, Wehrkraftzersetzung oder der unterlassenen Meldung dieser Delikte vor Gericht, davon 4.163 am OLG Wien, 36 am OLG Graz und 2.137 vor einem Senat des VGH.
Am OLG Wien wurden in mindestens 1.988 Verfahren die Fälle der 4.163 Angeklagten verhandelt. 672 von ihnen waren Frauen. Von den 17 Todesurteilen wurden elf in Wien und eines in Graz vollstreckt, die anderen zu Zuchthaus begnadigt. 458 Personen wurden oft erst nach Monaten oder gar Jahren in Untersuchungshaft freigesprochen – meist mit der Begründung „Aus Mangel an Beweisen“. Nur in neun Fällen wurde „Aus erwiesener Unschuld“ als Grund des Freispruchs angegeben. Aus den Akten geht hervor, dass ein großer Teil der Angeklagten aus dem politischen Umfeld der Kommunisten und Sozialdemokraten stammte.
Von den 726 durch den Volksgerichtshof abgewickelten Verfahren gegen 2.137 Angeklagte, darunter 325 Frauen, endeten 814 mit einem Todesurteil, mindestens 681 wurden auch vollstreckt.[2]

Aushang zur Verschwiegenheit, denn der "Feind hört mit!".
Foto: Thomas Keplinger

Transkription des Plakattextes:

"Willst Du siegen – sei verschwiegen!

Fast jeder Volksgenosse steht heute teils mittelbar, teils unmittelbar im Kampf um das Dasein des Reiches.
Fast ein jeder wird durch seine Tätigkeit oder andere Umstände Mitwisser von Vorgängen und Maßnahmen, die streng geheim zu halten sind und auf keinen Fall zur Kenntnis des Feindes kommen dürfen.
Jede Nachricht über innere und äußere Vorkommnisse militärischer oder wirtschaftlicher Art kann dem Gegner von Nutzen sein. Wie wichtig sie ist, kann der Einzelne nicht beurteilen.
Dein oberster Grundsatz in Kriegszeiten also:
Sei verschwiegen!
Zwinge Dich dazu, jedes Gespräch zu überdenken, überlege jeden Brief, den Du schreibst, sieh Dir an, mit wem Du umgehst.
Tue Dich nicht wichtig, prahle nicht mit Deinen beruflichen Kenntnissen und Erfahrungen.
Laß Dich nicht aushorchen und durch Widerspruch zum Ausplaudern geheimer Dinge reizen.
Sprich auch mit Deiner Familie, Deiner Frau oder Braut nur über das Notwendigste, soweit es Deinen Dienst betrifft.
Wo Du auch stehst, denke daran:
Feind hört mit!
Auch fahrlässige Preisgabe von Staatsgeheimnissen ist Landesverrat!"

(Thomas Keplinger, 9.7.2020)
(Dank einer Zuschrift von Dr. Willi Weinert wurde der Artikel am 11. Juli 2020 überarbeitet, Thomas Keplinger)

Anmerkung: Fehlende Stellen im Plakat habe ich mittels abgedruckter gleichlautender Texte in Zeitungen ergänzt, siehe  "Sei verschwiegen!" in "Innsbrucker Nachrichten" und "Willst du siegen, sei verschwiegen" in  "Niederösterreichischer Grenzbote".

Vielen Dank an Marcello La Speranza für den Hinweis auf dieses extrem rare Plakat, das nach mehr als 75 Jahren noch immer an dem Ort klebt, an dem es angebracht wurde.

Fußnoten


[1] Daniel Hunsmann, Seminararbeit „Der Volksgerichtshof“, online unter:
https://images.jurawelt.com/download/studentenwelt/seminararbeiten/national/volksgerichtshof.pdf (11. Juli 2020), S. 11f.

[2] Der Text entstand auf Grundlage von:
Wolfgang Neugebauer, Der österreichische Widerstand 1938–1945, online unter: DÖW, https://www.doew.at/cms/download/2ob0q/wn_widerstand-2.pdf (11. Juli 2020)
und
Peter Schwarz, NS-Justiz und politische Verfolgung in Österreich 1938–1945 (Rezension), online unter: DÖW, https://www.doew.at/erforschen/projekte/arbeitsschwerpunkte/widerstand-und-verfolgung/abgeschlossene-projekte/hochverrat-landesverrat-wehrkraftzersetzung/ns-justiz-und-politische-verfolgung-in-oesterreich-1938-1945 (28. Mai 2020)
sowie
Ursula Schwarz, Todesurteile des Oberlandesgerichtes Wien bei Verfahren der „besonderen Senate“, online unter: DÖW, https://www.doew.at/erinnern/fotos-und-dokumente/1938-1945/todesurteile-des-oberlandesgerichts-wien (28. Mai 2020)

Quellen, Links, Literatur

Beispiele für die „fliegenden Senate“ des VGH:


Winfried R. Garscha, Claudia Kuretsidis-Haider, „Traurige Helden der inneren Front“. Die Linzer Tagespresse und die Anfänge der gerichtlichen Ahndung von NS-Verbrechen in Oberösterreich 1945/46. In: Archiv der Stadt Linz, Stadtarchiv und Stadtgeschichte. Forschungen und Innovationen, Festschrift für Fritz Mayrhofer zur Vollendung seines 60. Lebensjahres (Linz 2004), S. 576 (Fußnote 84), online unter:
https://www.ooegeschichte.at/fileadmin/media/migrated/bibliografiedb/hjstl_2003_04_0561-0581.pdf (11. Juli 2020)

Gert Kerschbaumer, Franz Pöttinger, online unter:
Stolpersteine Salzburg, Ein Kunstprojekt für Europa von Gunter Demnig, http://www.stolpersteine-salzburg.at/de/orte_und_biographien?victim=P%C3%B6ttinger%2CFranz (11. Juli 2020)

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