Wirecard ist das jüngste Beispiel in einer langen Historie von Bilanzfälschungsskandalen. Auch die Fälle bei der italienischen Parmalat oder beim US-Energiekonzern Enron haben für Aufsehen gesorgt.

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Der mutmaßliche Bilanzbetrug rund um den Zahlungsdienstleister Wirecard zieht weite Kreise. Das Unternehmen hat am Donnerstag Insolvenz angemeldet. Die Aktie sackte weiter ab. Der im Milliardenskandal beim deutschen Konzern unter Verdacht stehende frühere Vorstandschef Markus Braun hatte davor die fünf Millionen Euro Kaution für seine Freilassung aus der Untersuchungshaft bezahlt. Das sagte ein Sprecher des Münchner Amtsgerichts am Mittwoch. Das Geld sei noch am Dienstagnachmittag hinterlegt worden, Braun wurde anschließend auf freien Fuß gesetzt. Auch der entlassene Vorstand Jan Marsalek will sich einem Zeitungsbericht zufolge der deutschen Justiz stellen.

Bei Wirecard steht der Verdacht im Raum, dass 1,9 Milliarden Euro, die auf Treuhandkonten in Südostasien verbucht waren, nicht existieren. Es könnten dahinterstehende Geschäfte also nur auf dem Papier existiert haben, um die Bilanzsumme und die Umsätze des Unternehmens künstlich aufzublähen. Der Aktienkurs von Wirecard ist in der Folge abgestürzt, die Ermittlungen Richtung Marktmanipulation und Bilanzfälschung laufen.

Aufseher und Prüfer im Visier

Ins Zentrum rückt nun wieder einmal die Frage, wie all das passieren konnte. Wie konnten jene Wirtschaftsprüfer, die die Bilanz des Unternehmens testieren, nicht erkennen, was hier vor sich geht? Wieso wurde die deutsche Finanzaufsicht Bafin nicht schon früher aktiv und hat das Unternehmen geprüft? Denn gerade bei Wirecard gibt es schon lange Gerüchte im Markt, dass im Unternehmen etwas nicht stimme.

Gewundert hat sich auch so mancher Analyst, dass ein Unternehmen im Zahlungsverkehr plötzlich so viel Geld verdient, während Banken und andere im Zahlungsverkehr aktive Unternehmen oft beklagen, dass Erträge nur schwer zu erwirtschaften sind – Stichwort Bankomatgebühr. Als Anlagepapier sei Wirecard nie betrachtet worden, heißt es nun. Es habe sich immer um einen Sell-Titel gehandelt: ein Papier also, das man gekauft hat, wenn es billig war, um es rasch mit Gewinn wieder abzustoßen.

Wer hat die Nase vorn?

"Wenn es um viel Geld geht, ist die kriminelle Energie oft nicht weit", sagt ein Analyst eines großen Asset-Managers, der nicht namentlich genannt werden möchte. Er beschreibt Tricksereien wie bei Wirecard als "Hase-und-Igel-Spiel". Es gehe darum, wer die Nase vorn habe. Wer den nächsten Trick finde (wie etwa die umstrittenen Steuerrückerstattungen "CumEx") oder die nächste Lücke im System, das sich aus Aufsicht und gesetzlichen Vorgaben ergebe. Es haben laut dem Insider immer jene die Nase vorn, die den Trick vor denen erkannt haben, von denen sie kontrolliert werden.

Das bringt vor allem die Aufseher ins Spiel. Doch die deutsche Bafin sagte rasch, sie sei bei Wirecard nur für den Bankteil des Konzerns zuständig und nicht für den wichtigeren Bereich der Online-Transaktionen. Das Deutsche Aktieninstitut (DAI), das die Interessen der kapitalmarktorientierten Unternehmen vertritt, warnte sogar vor mehr Regulierung. "Meines Erachtens ist der Werkzeugkasten an Regulierungsinstrumenten gut gefüllt", sagte DAI-Chefin Christine Bortenlänger am Mittwoch dem Bayerischen Rundfunk. Sie warnte davor, "jetzt die Bazooka der Regulierung" zu zücken. Kein Rechtssystem der Welt könne Betrug und Manipulation ganz verhindern.

Historische Beispiele

Ein Blick in die Wirtschaftsgeschichte zeigt: Betrügereien hat es immer gegeben. Große Bilanzskandale poppen regelmäßig auf.

Enron – 2001 Der US-Energiekonzern wurde lange als höchst innovatives Unternehmen gehypt. 2001 brach das System zusammen, Enron lieferte durch fortgesetzte Bilanzfälschung einen der größten US-Unternehmensskandale. Der Konzern musste 7,1 Mrd. Dollar Strafe zahlen. Ex-Konzernmanager Jeffrey Skilling wurde wegen Bilanzmanipulationen zu 24 Jahren Haft verurteilt. Durch die Insolvenz wurden rund 60 Mrd. Dollar an Börsenwert vernichtet. Das hat vor allem die Belegschaft hart getroffen, deren Pensionsvorsorge an der Enron-Aktie hing.

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Hoch geflogen – tief gefallen: Enron wurde als innovatives Unternehmen gefeiert, bevor es zum Absturz kam.
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Worldcom – 2002 Der 1983 gegründete US-Telekomkonzern wurde durch Zukäufe immer größer. Bernie Ebbers kaufte als Worldcom-Gründer und -Chef ein Unternehmen nach dem anderen – auch Branchengrößen saugte er auf. Ebbers, einst Milchmann und Basketballtrainer, hatte bei seinem letzten Deal aber zu hoch gepokert. Die geplante Übernahme des Rivalen Sprint scheiterte an den Kartellbehörden. Die Aktie brach ein. Ebbers musste auf Druck der Aktionäre im April 2002 seinen Hut nehmen. Dabei flog auf, dass er sich 366 Mio. Dollar von Worldcom geliehen hatte – er deckte damit Verluste aus Derivategeschäften mit eigenen Aktien. Um den Absturz des Aktienkurses zu bremsen, hatte er die Bilanzen fälschen lassen und rund elf Milliarden Dollar zu viel Gewinn ausgewiesen. Ebbers wurde zu 25 Jahren Haft verurteilt. Ebbers ist im Februar gestorben.

Parmalat – 2003 Der italienische Lebensmittelkonzern meldete im Dezember 2003 Insolvenz an. Damit wurde einer der größten Wirtschaftsskandale Italiens publik. Mehr als 100.000 Anleger verloren ihr Geld, das sie in Parmalat-Anleihen investiert hatten. Plötzlich konnte Parmalat diese nicht mehr bedienen. Mehr als 14 Milliarden Euro zu viel standen in der Bilanz des Unternehmens, das versuchte, mit Bilanzfälschung seine missliche Lage zu schönen. Parmalat-Gründer Calisto Tanzi wurde wegen betrügerischen Bankrotts, Insolvenzbetrugs und der Bildung einer kriminellen Vereinigung zu 18 Jahren Haft verurteilt.

Den italienischen Wirtschaftsskandal aufzurollen hat viele Jahre gedauert.
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Steinhoff – 2017 Beim südafrikanischen Konzern Steinhoff (bis zum Verkaufsabschluss von Kika/Leiner an René Benko rechtlicher Eigner der heimischen Möbelkette) flog die Bilanzfälschung durch einen Bericht von PwC auf. Eine Gruppe von Managern hatte über Jahre Transaktionen generiert, um im großen Stil die Bilanzen zu fälschen. Die fragwürdigen Buchungen von 2009 bis 2017 haben ein Volumen von rund 6,5 Milliarden Euro. (Bettina Pfluger, 25.6.2020)