"Männlichkeitspause" für den guten Zweck. Eine Gruppe Kanadier setzte sich für einen Kalender als Meerjungfrauen in Szene.

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Die Kategorien "Männlichkeit" und "Weiblichkeit" besitzen ein erhöhtes Reizpotenzial. Wer oder was männlich oder weiblich sei, wer sich (oder andere) warum als "männlich", "weiblich" oder keines von beiden begreift oder die Frage nach der institutionellen Verwaltung "der Geschlechter" (Toiletten, Geburtsurkunde et cetera) – all dies ist nicht erst seit neuestem hitziger Stoff für Feuilleton- und Stammtischdebatten.

Doch seit der Kölner Silvesternacht 2015/16, der #MeToo-Bewegung oder dem Aufstreben autokratischer Staatsoberhäupter ist ein konjunkturelles Interesse am Thema auszumachen, was durch das häufige Auftauchen von Begriffen wie "toxische Männlichkeit" oder "Krise der Männlichkeit" sichtbar wird. In den vielen Beiträgen und den Reaktionen darauf werden allerdings eher Unsicherheiten über den Gegenstand, seine Handhabung und dessen Konsequenzen als Lösungen ablesbar.

40 Jahre "Männerfantasien"

Auch auf dieStandard.at befasste sich der Autor Christoph May zuletzt mit Männlichkeitskonstruktionen unter den Stichwörtern "Körperpanzer", "Kreatur" und "Raum im Film und Fernsehen". Anlass war das 40-jährige Jubiläum von Klaus Theweleits "Männerphantasien", in denen der Literaturwissenschafter anhand einer Analyse von Männlichkeitskonstruktionen die (Vor-)Geschichte des Faschismus erzählt. Doch was, wenn "Männlichkeit" weder statisch noch überzeitlich noch kontextunabhängig ist?

Körper sind keine stabilen Entitäten. Körper sind Orte, in die sich Diskurse einschreiben, deren Grenzen jeweils von sozial und geschichtlich wandelbaren Wahrnehmungen abhängen und deren Zurichtung von institutionellen Regulierungsmaßnahmen abhängen (Kirche, Gefängnis, Schule et cetera). Ein Theorieangebot Theweleit'schen Zuschnitts vergisst die Veränderung von Körpern, deren Diskurse und deren Geschichtlichkeit. Die Konsequenz einer solchen Perspektive ist, dass etwa "race", "class", "desire" nicht als Bestandteile eines Redens über den Körper gedacht werden können. Anders gesagt: Auf diese Weise wird die Überzeitlichkeit des Körpers, wird sein "So-Sein" behauptet, sodass kaum Spielräume für Widerstände gelassen werden.

Das hat Konsequenzen: Wenn etwa der einzige analytische Zugriff auf bröckelnde Frauenkörper darin besteht, sie als Projektionen des männlichen Körperpanzers zu begreifen, was hätte das für politische Implikationen? Laut Theweleit dichtet sich ja der Mann gegen Frauenfluten ab – was ist das hier für ein Konstrukt? Handelt es sich um körperliche Grenzverwischung, die totale Vereinnahmung des Mannes über den Körper der Frau (und, falls ja, warum et cetera), dann werden Frauenfiguren von einem solchen Zugriff selbst als handlungsunfähig konzipiert und jeder Form der emanzipatorischen Kraft beraubt. Anders formuliert: Gibt es in dieser Konfiguration überhaupt noch Auswege, sowohl für Männer als auch und vor allem für Frauen? Und wenn "der" männliche Körper standfest behauptet wird, inwieweit können überhaupt andere Faktoren wie etwa "class", "race" oder "belief" bei der Konstitution von Körpern mitgedacht werden?

Männliche Zeugungsfantasien

Und was ist mit der behaupteten Kreatur im Mann? Dass Kreaturen Manifestationen von Geburtsfantasien sind, dass "es sich bei Kreaturen jeder Art um spezifisch männliche Darstellungsformen handelt", ist nicht nur begrifflich vorprogrammiert (Kreatur als Kreation), sondern auch ganz ohne Freud schon Teil der Kulturgeschichte gewesen. Spätestens seit der Geburt der Athene aus dem Haupt des Zeus werden männliche Zeugungsfantasien als dem Geburtsvorgang der Frauen analog dargestellt, allerdings im Bereich der geistigen Schöpfung. All das nimmt – im Kontext der Moderne – dann weiter Fahrt auf, wenn sich biologische und künstlerisch (Re-)Produktion weiter ausdifferenziert und der Mann mit dem Malus der Geburtsunfähigkeit konfrontiert wird, den er im Bereich künstlerischer Produktion zu kompensieren versucht. Und diesen Malus gilt es zu beseitigen, indem kreative Schöpfung als der biologischen gleichwertig gesetzt und als nur den Männern zugänglich konzipiert wird.

Dass sich der Mann schließlich in der Moderne selbst durch eigenen Erfindungen überflüssig gemacht hat – Günther Anders sprach vom "prometheischen Gefälle – und sich allein in den vergangenen 200 Jahren die Vorstellung von Körpern und deren Hervorbringungen teils radikal verschoben hat (Gentechnik, Kriegsschrecken, Digitalisierung) – all das kann hier nur angedeutet werden, verweist aber auf die komplexe Situation, in der ein Sprechen über Körper(-Kreaturen) jeweils stattfindet. Es handelt sich um eine diskursive Formation, die im Kreuzungsbereich von Biologie, Ökonomie und Anthropologie vorgeht und also in einem komplexen Gefüge entsteht – und nicht, weil jemand das fehlende Genital seiner Mutter registrierte.

"Verweiblichung" der Natur

Zur Raumüberlegenheit: Imaginationsräume sind immer auch – das macht die mehrfache Bedeutung des Begriffs klar – solche, die imaginiert sind, und das heißt, dass Räume selbst von den jeweils historisch und sozial wandelbaren Imaginationsleistungen abhängig sind. Ordnungsfiguren wie innen/außen, natürlich/künstlich oder freundlich/feindlich sind dabei nicht weniger abhängig von dem, was etwa von "den Geschlechtern" verlangt wird: Mit dem Entstehen der Biologie im 18. Jahrhundert ging auch die Einteilung moderner Geschlechtlichkeit einher, Männer und Frauen wurden als komplementär empfunden. Die Umwandlungen sozialer und ökonomischer Modelle trugen schließlich dazu bei, dass Männern und Frauen spezifische Sphären zugeteilt wurden: Er sollte für die Verwaltung der öffentlichen, sie für die der privaten zuständig sein.

Das hat auch mit der "Verweiblichung" der Natur zu tun, über deren Beherrschung der Mann sich seit dem 17. Jahrhundert konstituierte. Dass eine solche diskursive Verweiblichung der Natur plötzlich aufgehoben ist und es sich bei landschaftlichen, architektonischen und Naturdarstellungen aller Art um männliche Monokulturen handelt, die das deshalb seien, weil sie "geistlos" sind, braucht weitere Erläuterung. Zu fragen wäre etwa, wie Landschaften und Räume als all-männlich kodiert werden, ohne "Männlichkeit" zu essenzialisieren; was sind die ästhetischen Merkmale solcher Orte? Unter welchen Bedingungen ist allererst anzunehmen, dass Räume Veräußerungen von "Innenwelten" sind? Unter welchen Umständen wird der Moderne überhaupt möglich, Räume mit geschlechtlichen Ordnungen übereinander zu legen? Welche strategischen Operationen sind damit impliziert? Wie können Räume und deren Darstellungen mit der Macht darüber ausgestattet werden, dass mit ihnen Techniken des Ein- und Ausschlusses verbunden werden? Wie funktionieren physische Räume als Konstitutionsorte von Männlichkeit?

Männliche Hegemonie

Lektüren nach Theweleit führen häufig vor Augen, inwiefern es sich bei der Formulierung der Ausgangsbeobachtung häufig um einen zirkulären Kurzschluss handelt: Weil jede Form der Hervorbringung von Männern (die, ja, dummerweise den Großteil von Kulturgütern produzieren) eine Manifestation ihrer Fantasie sei, sind sie natürlich von Männerfantasien besiedelt. Das ist banal wie gefährlich. Denn wenn jeder Körper eine Version des männlichen Körperpanzers ist; wenn jede Kreatur (sogar Epidemien, Seuchen und Apokalypsen) männlichen Ursprungs ist; und wenn jeder ästhetisierte Raum zugleich vermännlicht wurde – welche Konsequenzen hat das für Geschlechterverhältnisse, worin läge das politische Potenzial einer solchen Analyse, und wo sind Formen des Widerstands, der Ent-Unterwerfung auszumachen?

Deshalb stellt sich die Frage, was dann mit der Funktion des Körperpanzers noch auf dem Spiel steht. Denn entweder soll sie den ultimativen Erklärungszusammenhang darstellen – oder aber sie wird schlicht entleert, weil überladen. Nicht jeder Körper hat schon einen Panzer beziehungsweise ist einer. Denn wenn jede Darstellung von Körper, jede kreatürliche Schöpfung und jede Raumordnung die Externalisierung männlicher Phantasie oder deren Umstülpung ist – was bleibt uns da noch zu tun?

Es müsste um die Frage gehen, wie die derzeitigen herrschenden Bedingungen historisch, kulturell und gesellschaftlich abgesichert werden. Und wir müssten jene Punkte aufsuchen, an denen Brüche und Diskontinuitäten von Diskursen Einsprüche zulassen. Eine Analyse, die das berücksichtigt, kann dann Identitätskategorien wie "Frau", "Körper", "Geschlecht" oder "Subjekt" zugleich als Ort des Politischen sichtbar machen. Ansonsten drehen wir uns weiter im Kreis. Männlichkeit ist ein komplexes Phänomen, und um diesem beizukommen, bedarf es großer Anstrengungen. Die Geschlechter- und vor allem die Männlichkeitsforschung hat sich in der Zwischenzeit rasant weiterentwickelt. Und es gibt viele neue Ansätze, die lohnenswert scheinen. (Marius Reisener, 2.7.2020)