Malen durfte ich mit links, schreiben sollte ich mit der rechten Hand, das war der Kompromiss.

Foto: Elfie Miklautz

Ich bin mit einer Behinderung geboren. Komisch, so etwas zu schreiben, denn "behindert" fühle ich mich zwar in mancherlei Hinsicht, aber gerade nicht dort, wo die offizielle Einschränkung liegt: Mir fehlen zwei Finger an der rechten Hand. Diese "kleine Hand" ist etwas Positives. Immer schon gewesen, so scheint mir.

Meine Eltern haben mich in der Hinsicht gut erzogen. Sie erzählten mir, was man alles Tolles mit solch einer Hand machen könne, zum Beispiel Gold aus einem sehr engen Erdloch herausholen. Und sollte mich jemand hänseln deswegen, dann müsse ich mir immer klarmachen: Der sei doof.

Es hätte schiefgehen können. Meine Hand hätte ein Makel sein können, ein Leben lang. Ein Punkt der Scham. Sie ist es nicht. Es gab keine Sonderbehandlung, auch in der Schule nicht, kein Mitleid – und so gehe auch ich mit der Hand um, ich vergesse sie. Manchmal allerdings erschrecke ich bei Fotos, dem gefrorenen Blick. Es ist doch ziemlich gut zu sehen, dass da etwas anders ist, kleiner, verkrüppelt.

"Röteln", hieß es immer

Schon vor meiner Geburt hatte man gewusst, dass etwas nicht stimmen würde. Mir hätten zum Beispiel die Zehen fehlen können, erklärte mir meine Mutter, als ich klein war, und machte das vor, wie es ist, auf den Hacken herumzulaufen. Das wäre definitiv schlimmer gewesen. Die kleine Hand war also eine große Erleichterung.

Was genau mit ihr los ist, weiß ich allerdings bis heute nicht. Ich bin kein "Contergan-Fall", obwohl mein Geburtsjahr noch in die betreffende Zeit hätte fallen können. Nein, meine Mutter habe im dritten Schwangerschaftsmonat Röteln gehabt, hieß es immer. Diese Geschichte erzähle auch ich, wenn man nach dem Ursprung der Hand fragt: Mutter, Röteln, im dritten Monat.

Ich habe meine Zweifel, denn Röteln in der frühen Schwangerschaft sind verheerend fürs Kind, und ich erinnere, dass mein Vater, als es schon nicht mehr gutging in der Ehe, ein "sagt sie" anfügte bei der Rötelngeschichte. Als sei da noch etwas anderes, eine Schuld meiner Mutter, die niemals eingestanden wurde.

Eigenartige Mechanik

Am ehesten trifft wohl die Diagnose "Spalthand" zu, eine Unterform der Dysmelie. Die Finger sind kräftig, der Daumen ist voll ausgebildet. Bei der Geburt war er frei, die beiden anderen Finger zusammengewachsen. Welche da eigentlich fehlen, ist nicht so genau zu sagen, aber die verbliebenen sind durch eigenartige Mechanik miteinander verbunden.

Der zweite, der "Zeigefinger", ein mächtiges Teilchen, lässt sich nicht unabhängig vom Daumen bewegen (immer wenn ich den Daumen anwinkele, beugt sich also unwillkürlich auch der Zeigefinger, wie bei einer Zange) und auch nicht vollends strecken. Er ist im oberen, knubblig geratenen Glied etwas nach rechts verschraubt, als wolle er sich seinem Kompagnon, dem dritten Finger, zuneigen.

Der dritte ist ein stämmiger Geselle, keinesfalls ein kleiner Finger. Das Auffälligste an ihm ist der etwas verformte und zur Innenseite hin verdickte Nagel. Die Proportionen stimmen: Nicht nur ist die rechte Hand kleiner, der ganze zugehörige Arm ist schmaler und einige Zentimeter kürzer als der auf der linken Seite.

Die Hand im Galgen

Als ich dreieinhalb Jahre alt war, wurden die Finger zwei und drei operativ voneinander getrennt, und man setzte zwischen sie etwas Haut von der Innenseite meines Oberschenkels. Das war damals, in den 1960er-Jahren, keine leichte Angelegenheit.

Zwischen Finger zwei und drei liegen also Narbengewebe und jenes Stück transplantierter Haut wie eine faltige, etwas dunkler und rauer wirkende Landschaft, in der manchmal vereinzelt kleine Härchen wachsen, als erinnere sich die Haut noch immer an ihre eigentliche Herkunft.

Weil meine Familie privat krankenversichert war, lag ich in einem Einzelzimmer. Ich erinnere mich an einen abgedunkelten Raum, meine rechte Hand hängt bandagiert oben, in einem "Galgen" am Krankenhausbett, sie darf nicht bewegt werden. Ich sei sechs Wochen lang im Krankenhaus gewesen, heißt es, und habe hinterher wieder neu laufen lernen müssen.

Am ehesten trifft wohl die Diagnose "Spalthand" zu, eine Unterform der Dysmelie. Die Finger sind kräftig, der Daumen ist voll ausgebildet.
Foto: Elfie Miklautz

Ein Schock war, als die Hand dann zum Fädenziehen enthüllt wurde. In meiner Erinnerung ist sie komplett mit winzigen schwarzen Spinnenbeinen übersät. Ich schreie wie wahnsinnig. Man muss mir ein Tuch über den Kopf legen, damit ich mich beruhige. Immer noch kann ich Spinnen nicht aushalten. Aber ich mag meine Hand. Sie ist die Gute, sie ist die Kleine.

Auch wenn ich ihretwegen etwas nicht kann: Sie trifft keine Schuld. Denn natürlich kann ich vieles mit und wegen dieser rechten Hand nicht, und man hat zu ihrer Förderung nicht besonders viel Fantasie bewiesen. Beim ersten Schulinstrument, der Blockflöte, wurde das klar. Beide Daumen dienen zum Halten, aber für das tiefe C fehlte mir mindestens ein Finger.

Ich versuchte es, indem ich die Flöte auf dem angewinkelten Knie ablegte, um den rechten Daumen mitverwenden zu können, aber das war eine wackelige Angelegenheit. Ich verstopfte das letzte Griffloch mit einem zerknubbelten Stückchen Papiertaschentuch, was nicht besonders hilfreich war.

Es war ein Als-ob

Gerne hätte ich ein Instrument spielen gelernt, Klavier oder Gitarre fand ich toll – aber meiner Mutter fiel zu drei Fingern nicht viel mehr ein als Trompete oder Geige. Das war’s dann fürs Erste. Lange Zeit über saß ich abends im Bett und spielte mit einem Federballschläger Gitarre; ich hielt sie verkehrt herum, mit rechts packte ich den Griff des Schlägers als Hals meiner Gitarre, mit links schrubbte ich auf den stummen Saiten herum. Es war ein Als-ob. Ein Spielen, spielen zu können.

Drei Finger an der rechten Hand, denke ich, sind kein Grund, nicht musikalisch zu sein. Hätte ich nicht, bei wirklichem Talent, aus den Tönen eines Kinderxylofons herrliche Melodien gemacht und von dort aus meine Förderungsfähigkeit bewiesen? (Man kennt ja die Beispiele jener, die es auch mit Behinderung zu musikalischer Meisterschaft bringen, Thomas Quasthoff, der kleinwüchsige Bariton, Paul Wittgenstein, der nach seiner Kriegsversehrung eben einhändig Klavier spielte.)

"Das mach ich mit links"

Als ich in die Schule kam, hätte ich gerne mit der linken Hand schreiben gelernt. Wie das klingt: "Das mach ich mit links." Aber die 1960er-Jahre waren keine Zeit für solche Sperenzchen. Im Nachhinein bin ich dankbar dafür. Meine rechte Hand wäre verkümmert, hätte man mich damals nicht gezwungen, mit ihr zu schreiben.

Malen durfte ich mit links, aber schreiben sollte ich mit der rechten Hand, das war der Kompromiss, und bis heute gilt diese Arbeitsteilung. Den Stift halte ich fest zwischen dem Daumen und meinen beiden Restfingern eingeklemmt.

Es ist eine etwas verkrampfte Haltung, die zu Schmerzen führt, wenn ich lange schreibe; dünne, glatte Stifte kann ich nicht handhaben, und auch vorgeformte Griffhilfen bei Schülerfüllern oder seitlich abgeflachte Federn funktionieren nicht.

Gewünschte Dinge doch tun

Es muss anfangs quälend gewesen sein, mit der kleinen Hand schreiben zu lernen, und ähnlich wie für die Gitarre hatte ich eine Art Fake entwickelt, ein linkes Schreiben. Wie wild füllte ich ganze Hefte mit einer leicht dahingleitenden linkshändigen Krakelschrift, als Ausgleich für die Mühen der rechten Hand.

Denn Schreiben gefiel mir. Ich behauptete, diese Krakel seien eine Geheimschrift, und ich behielt sie lange bei, selbst über die Grundschulzeit hinaus. Wenn ich nicht wusste, was ich schreiben sollte, aber schreiben wollte, einfach schreiben, und wenn es leicht gehen sollte, dann benutzte ich diese Schrift.

Erst später begann ich, die gewünschten Dinge dann doch zu tun: Ich habe tatsächlich Gitarre spielen gelernt, auch kompliziertere Zupftechniken. Das geht mit drei Fingern, wenn man schnell genug ist. Ich habe mir das Maschineschreiben beigebracht – "Ilse fasse die Seide dieses Kleides" – und kann blind, also sozusagen mit zehn Fingern tippen.

Es hätte vielleicht auch für das Klavierspiel gehen können, man muss es wollen, die Hürde nehmen, wie über ein etwas höheres Mäuerchen springen. Aber dieses Musik-Mäuerchen habe ich nicht genommen. Schreiben ist mein Leben geworden. Ich habe kistenweise, tausende Seiten an Tagebuch gefüllt, handschriftlich, mit rechts.

Im Ungleichgewicht

Sport dagegen ist ein heikles Thema, ein bedrückendes. Ich sehe mich auf dem Spielplatz abseits stehen. Die anderen hangeln sich an den Gerüsten entlang, an horizontal gelegten Sprossenleitern, ich kann das nicht, der Arm ist zu schwach, die Narben an den Innenflächen der Finger verhindern das Festklammern, sie fühlen sich verletzlich an.

Man kann mit dieser Hand einiges nicht, was einfach aussieht, eine Haustür aufschließen zum Beispiel, einen Tennis- oder Badmintonschläger halten, einen Ball kräftig werfen: All das tue ich mit links. Trotzdem ist das Unwohlsein, das ich oft beim Sport empfinde, mehr als die rechte Hand, es ist ganzkörperlich. Etwas ist im Ungleichgewicht, out of tune, unbewusst ist die rechte Hand natürlich immer da, als Asymmetrie, als eine Körperhälfte, die dünner, kleiner ist.

Bei Schneeballschlachten habe ich nie mitgemacht, beim Völkerball wurde ich als Letzte ausgewählt, ich stellte mich ungeschickt an. Die anderen Mädchen stemmten sich hoch an den Turngerüsten, baumelten kopfüber an den Stangen oder konnten im Überschlag herumwirbeln, ein Bein gebeugt, das andere wie eine Unwucht ausgestreckt.

Schulsport habe ich gehasst. Beim Hochsprung kam ich nicht hoch, beim Weitsprung nicht weit. Ich sah lebhaft vor mir, welche Unfälle passieren könnten beim Bockspringen, beim Durchhocken über den Kasten, und ich schämte mich vielleicht auch, es vor den Augen der anderen zu versuchen.

Meine Hand ist so privat

Hätte es doch einen Sportsaal für mich alleine gegeben, in dem ich nachmittags, ohne den Druck, ohne die Schnelligkeit der anderen hätte üben können, gemeinsam mit einer Freundin vielleicht, die mir Hilfestellung gibt beim Radschlagen, beim Handstand. Auch fürs Motorradfahren hätte ich das gebraucht, jemanden, der sagt: Die Handbremse rechts lässt sich verstellen, sodass auch du sie greifen kannst. Keinen meiner Lehrer hat die Hand je interessiert. Sie war ja normal. Keiner hat leichtere Wege für sie gesucht.

In den 1960ern und 1970ern gab es keine Extrawürste. Und so handele ich immer noch. Nehme beim Yoga keinen Block, um die unterschiedlichen Armlängen auszugleichen. Ich weiß mir auch so zu helfen, setze die Hände "im Hund" versetzt auf. Doch heute, 2020, reicht mir die Yogalehrerin einen Block. Achtsam, fürsorglich. Die weiche Tour.

Zu viel über meine Hand zu wissen nähme ihr die Unschuld. Recherchen im Internet finde ich erschreckend, verstörend. Meine Hand ist so privat, so einzig, während das Anschauen von Dysmelien, fremden verstümmelten Gliedmaßen, leicht ins Obszöne kippt.

Ich will das nicht wirklich sehen, nicht wahrhaben. Ein Tabu sind die Perversionen rund um Verstümmelung, hier wird das nicht Problematische dann doch abgründig: Behinderungen haben, vielleicht weil sie Voyeurismus anstacheln, etwas Sexuelles, eigenartigerweise auch etwas Potentes.

Wenn ich sage: "Ist von Geburt an", die Erklärung gebe, Röteln usw., sind sie meist zufrieden.
Foto: Elfie Miklautz

Es gibt dieses rätselhafte Phänomen der Body Integrity Disorder bei Menschen, die sich besessen und sehnlichst eine Behinderung wünschen, ein Hinken, ein amputiertes Bein, es gibt die sogenannte Amelophilie, eine sexuelle Attraktion an fehlenden oder wuchernden Gliedmaßen.

Was genau ist Obszönität? Die Sexualität meiner Hand, denn natürlich spielt auch das eine Rolle, ist eine andere. Hände sind wichtig, erotische Objekte, natürlich, und Werkzeuge des Eros. (Früher allerdings, in der Pubertät, fragte ich mich, ob die Jungs mich weniger anschauen wegen der verkrüppelten Hand. "Wenn es so ist", schrieb ich ins Tagebuch, "dann macht es mir nichts.")

Spezialfähigkeiten

Die Arbeitsteilung meiner Hände: Die Linke trägt die Lasten, sie muss greifen, sie muss die meisten Aufgaben übernehmen. Sie ist die Kräftige und die Geschickte. Die Rechte ist eine kleine Zange um etwas festzuhalten oder Gegendruck zu erzeugen, aber für feinere Aufgaben, fürs Nähen etwa, oder auch nur fürs Kartoffelschälen, ist sie nicht geeignet. Die Rechte hält die Nadel. Die Linke fädelt ein und führt den Stich. Sie ist der eigentlich wunde Punkt, denn ihr darf nichts passieren. Ihre Beeinträchtigung wäre fatal.

Ich denke an die Contergan-Geschädigten, die sich so wunderbar zu helfen wissen. Es gab Berichte darüber, wie sie lernten, sogar mit den Füßen zu essen, gelenkig, biegsam, wie sie Spezialfähigkeiten entwickelten, über jedes normale Menschenmaß hinaus. Allerdings führte die Überlastung früher oder später zu Folgeschäden, zu vorzeitigem Gelenkverschleiß. Mach dir nichts vor: Irgendwo holt die Behinderung dich doch wieder ein. In jedem Wunder steckt ein Stück Grausamkeit.

Auch sie wird älter

Als ich Ende 30 war, begann ein Taubheitsgefühl in meiner linken Hand. Die Erkrankung ist nichts Besonderes, ein Carpaltunnelsyndrom (CPS), das operativ zu richten ist. Aber dennoch bleibt die Sache heikel. Nicht sie auch noch.

Musiker können ihre Hände versichern lassen. "Gliedertaxe" heißt das. Der Verlust des Daumens oder des Zeigefingers gilt als 100-prozentige Invalidität, der des kleinen Fingers als 50-prozentige. Die Musikerinnen, die ich kenne, haben solche Versicherungen nicht. Ihre Sorge ist zu abstrakt. Was soll schon geschehen?

Ich habe jetzt also auch an der linken Hand eine Narbe, sie ist fein und klein, kaum zu sehen. Das CPS ist nicht ganz verschwunden, ich kann es triggern, wenn ich die Hand stark abwinkele, und es meldet sich mittlerweile auch an der Rechten. Hinzu kommt eine leichte Steifigkeit in den Fingergliedern – und kürzlich bemerkte ich eine taube Stelle an der Innenseite des rechten Daumens.

Das kommt vom Schreiben mit der Hand. Der Stift, den ich zu fest aufdrücken muss, hat einen Nerv abgetötet. "Stört es Sie?", fragt die Orthopädin. Nein, es beunruhigt mich nur, wie alles am Körper, der sich ja mit zunehmendem Alter auch selbst behindert. Unsere angeborene Invalidität, die Uhr, die tickt. Meine kleine Hand ist davon nicht ausgenommen. Auch sie wird älter mit der Zeit.

Der Griff zuerst ins Leere

"Was hast du mit deiner Hand gemacht?", so reagieren andere manchmal, denn beim Handschütteln merkt man sie natürlich. Der Griff zuerst ins Leere, das kurze Erschrecken darüber, die etwas beschämte Irritation. Die meisten belassen es dabei, einige aber fragen: Was hast DU mit deiner Hand gemacht. Wieso ich? Manchmal auch: "Was ist mit deiner Hand passiert?" – Wenn ich dann sage: "Ist von Geburt an", die kurze Erklärung gebe, Röteln, dritter Schwangerschaftsmonat, zwei zusammengewachsen, operativ getrennt, sind sie meistens zufrieden.

Von Geburt an, das ist nicht schlimm. Auf einer frühen Reise nach Ägypten war ich verwundert, wie ungewöhnlich offen und direkt die Menschen dort auf meine Hand reagierten, sie neugierig anfassten, betrachteten, hin und her drehten und dann zum Himmel hinaufzeigten: "Allah!" – Gott hat es gegeben. Gut so.

Scheulose Offenheit

Gesunde Kinder reagieren oft heftig. Bis zum Alter von meist drei oder vier Jahren bemerken sie die Andersartigkeit der Hand nicht, aber dann zeigen sie Angst, auch Abscheu, verstecken sich hinter den Rücken der Eltern. (Es tritt dann dieser kurze Moment der Peinlichkeit ein über den zu direkten Zugriff. Als deuteten sie auf eine intime, nackte Stelle, wie die Hunde, die dir zielsicher ihre Schnauze in den Schritt schieben).

Die Ablehnung ist schwierig, wenn ich den Kindern nahe bin. Johanna, die damals fünfjährige Tochter meiner Cousine, war so empört, als hätte ich Verrat begangen. Sie war nicht zu beruhigen, lief weg vor mir. Etwas später ging ich hinterher, um nach ihr zu sehen. Sie saß auf dem Boden ihres Zimmers und starrte wütend auf das Bilderbuch Prinzessin Kunigunde in ihrem Schoß, das ich ihr einmal geschenkt hatte.

Anouk wiederum wollte unbedingt, dass ich die fehlenden Finger ersetze, und klebte mir zwei Stifte an. Amelie lachte wild, rannte um mich herum und rief ohne Ende: "Du bist ne olle Harke." Die schönste, vielleicht auch natürlichste Reaktion auf meine Hand erlebte ich in einer Schwerhörigenklasse, in der ich für eine Stunde hospitierte. Ich saß hinten im Raum, da entdeckte einer der Schüler die drei Finger, machte den anderen aufgeregt stumme Zeichen und deutete immer wieder auf die Hand.

In in null Komma nichts stand die ganze Klasse um mich herum, nicht ängstlich, nicht erschreckt, nicht angeekelt, sondern nur neugierig. Ich musste an die Tafel gehen und zeigen, dass ich mit links schreiben kann und mit rechts. Ich mochte die Reaktion, diese scheulose Offenheit, die ein bisschen an das "Allah" der Ägypter erinnerte.

Einziges Fehlen liegt im Vergleich

Mir fehlen zwei Finger: Eigenartig, das Fehlen ist ja nicht etwas, sondern etwas ist nicht. Immer werden die Dinge kompliziert, wenn eine Negation ins Spiel kommt. Natürlich existiert dieses Fehlen nur im Vergleich, "an sich" gibt es kein Fehlen, "an sich" auch keine Behinderung. Wenn er einen Wunsch frei hätte, würde er heute keine Haare mehr wollen, sagt in dem außergewöhnlichen Film Touch Me Not ein Mann, der aus unerfindlichen Gründen schon als Jugendlicher eine Glatze bekam.

Mir geht es mit der Hand auch so: Wenn ich einen Wunsch frei hätte, oder auch zwei oder drei oder 30 – dass ich fünf Finger an der rechten Hand haben möchte, wäre nicht dabei. Warum auch? Sie ist ja, wie sie ist. Unendlich berührend, ebenfalls im Film Touch Me Not, ist der schwerstbehinderte Thomas: Sein kleiner Körper scheint wie von einer Dampfwalze zerquetscht, nichts daran lässt sich selbstständig bewegen. Er scheint fast nur aus seinem großen Kopf zu bestehen, Speichel läuft aus dem Mund, die Schneidezähne stehen wild hervor.

Im Film wird Thomas gefragt, was er an seinem Körper am meisten möge. Die Augen sagt er, die seien leuchtend und schön, seine Haare, die er zum Pferdeschwanz zurückgebunden trägt – und seinen Penis. Der funktioniere richtig gut. Thomas, dieser zerschmetterte Mensch, scheint derjenige im Film mit dem besten Körpergefühl zu sein. Was sagt das über "Behinderung"? (27.6.2020)