Die Ortseinfahrt von Mautern.
Foto: Karl Reder

Eine unscheinbare Wiese an der südöstlichen Ortseinfahrt von Mautern: Der fast vergessene Tatort aus einer besonders dunklen Zeit. Am 6. April 1945 gegen Mittag überqueren vier Männer die Donaubrücke zwischen Krems und Mautern am Ostrand der Wachau in Niederösterreich. Es handelt sich um ehemalige Häftlinge der Strafanstalt Stein, die kurz zuvor entlassen worden waren.

In jenen Tagen steht die Rote Armee bereits in Wien, während Krems und Umgebung noch von der deutschen Wehrmacht gehalten werden. Tausende Flüchtlinge drängen entlang des Donautals nach Westen. Im mit knapp 2.000 Insassen völlig überbelegten Gefängnis in Stein gehen die Lebensmittel zu Ende, und zur Evakuierung der Häftlinge fehlen die Transportkapazitäten. In dieser aussichtslosen Situation lässt Franz Kodré, der Direktor des "Zuchthauses", die Zellentüren öffnen und die Gefangenen frei. Viele von ihnen waren von der NS-Justiz aus politischen Gründen inhaftiert worden. Sie machen sich nun allesamt zu Fuß in alle Himmelsrichtungen auf den Heimweg.

Aus dem kommunistischen Widerstand

Unter der vierköpfigen Gruppe, die nun durch Mautern Richtung Süden marschiert, befinden sich zwei ehemalige Eisenbahner, der 49-jährige, aus Böheimkirchen stammende Ferdinand Praher und der 35-jährige Sankt Pöltener Johann Neumayer. Beide kommen aus dem kommunistischen Widerstand und saßen nach ihrer Verhaftung durch die Gestapo und anschließenden Verurteilung langjährige Zuchthausstrafen in Stein ab. Nun aber wähnt man sich endlich in Freiheit; es ist ein trügerischer Glaube.

Johann Neumayer wird nach Stein zurückgebracht, er überlebte aber den Krieg.
Foto: DÖW

Kurz vor dem Ortsende von Mautern hält der kleine Trupp bei einem Haus. Neumayer, der bereits Zivilkleider trägt, bittet die Bewohner um Wasser und um eine Schnur zum Zusammenbinden seiner Habseligkeiten. Als er nach zehn Minuten wieder auf die Straße tritt, sind seine drei Begleiter, darunter Praher, spurlos verschwunden.

Situation in Stein eskaliert

Was Neumayer nicht weiß, ist, dass in der Strafanstalt Stein in der Zwischenzeit die Situation vollends eskaliert ist. Fanatische Nationalsozialisten unter der Wachmannschaft wollen nicht akzeptieren, dass Regimegegner im letzten Moment pardoniert werden. Sie alarmieren kurzerhand den Kreisleiter mit dem Vorwand, im Gefängnis sei ein Aufstand ausgebrochen. Sofort werden alle verfügbaren Polizei- und Militäreinheiten nach Stein beordert, wo von einer Revolte freilich nichts zu bemerken ist. Trotzdem wird die Haftanstalt abgeriegelt, unter den Häftlingen bricht Panik aus. Angehörige der Waffen-SS und der Wehrmacht eröffnen das Feuer. Hunderte Häftlinge sterben im Kugelhagel. Der Direktor und drei ihm loyale Wachebeamte werden von einem Erschießungskommando an der Anstaltsmauer hingerichtet.

Danach schwärmen bewaffnete Greifkommandos aus, um die sich bereits im Umland befindlichen Häftlinge wieder festzunehmen. Viele der Angehaltenen werden nicht in die Anstalt zurückgebracht, sondern an Ort und Stelle erschossen. Mitbeteiligt bei dieser mörderischen Jagd (sie wird heute euphemistisch "Kremser Hasenjagd" genannt) sind nicht nur Soldaten und Polizisten, sondern auch Zivilpersonen, Angehörige des Volkssturms und der Hitlerjugend.

Berichte von Zeitzeugen

Jahrzehnte später, 2015, werden erstmals Erzählungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen publiziert, die in jenen Tagen im April 1945 auf einem Feld an der südöstlichen Ortseinfahrt von Mautern die Leichen mehrerer erschossener Häftlinge gesehen haben. Katharina Fasl, damals elf Jahre alt, erinnert sich:

"Gegenüber der Kaserne war der Exerzierplatz, da waren große Gräben und wir sind oben gestanden und unten sind die in dem Graben drinnen, sind da drei oder vier Häftlinge gelegen. [...] An Details kann ich mich nicht erinnern, nur dass sie ganz mager waren, einer hatte die Augen offen, der andere hat sie zu gehabt. Ausgemergelte Gestalten, schiach mit einem Wort."

Doch wer die Menschen waren, die nur wenige Schritte außerhalb der Stadt Mautern den Tod gefunden hatten, und ob man sie später exhumierte, blieb auch nach den Augenzeugenberichten völlig im Dunkeln.

Jedoch nehmen manchmal Geschichten eine unerwartete Wendung, sobald neue Puzzleteile auftauchen: Im vorliegenden Fall ist es ein Zufallstreffer in einem Onlinearchiv: Anfang 2019 veröffentlicht der digitale Zeitungslesesaal "Anno" der Österreichischen Nationalbibliothek die Ausgaben der "Wiener Zeitung" des Jahrgangs 1948. Darin findet sich ein Aufruf des Kreisgerichts St. Pölten, dass Ferdinand Praher von sich Nachricht geben solle. Prahers Ehefrau Johanna hatte den Stein-Häftling bereits 1945 als vermisst gemeldet und nach zwei Jahren des vergeblichen Wartens die gerichtliche Todeserklärung ihres Ehemanns beantragt. In der "Wiener Zeitung" steht auch nachzulesen, wo man Praher zuletzt gesehen hatte – in Mautern.

Rekonstruktion eines Verbrechens

Rückblende 6. April 1945. Neumayer steht allein auf der Straße, seine Begleiter sind nirgends zu entdecken. Da berichtet ihm eine Passantin, ein Auto habe angehalten und sei mit den drei Männern Richtung St. Pölten davongefahren. Kurzerhand setzt Johann Neumayer seinen Heimmarsch allein fort. Er kommt bis nach Statzendorf, wird von Angehörigen der Waffen-SS angehalten, misshandelt und eingesperrt. Nur die Notlüge, er sei wegen des verbotenen Ankaufs von Schweineschmalz verurteilt worden, rettet ihm das Leben. Während rund um Statzendorf dutzende Häftlinge ermordet werden, bringt man Neumayer zurück nach Stein. Er überlebt den Krieg und kehrt gezeichnet nach Hause zurück.

Doch für das, was in Mautern geschehen ist, nachdem sich Neumayer und Praher aus den Augen verloren hatten, gibt es keine unmittelbaren Zeugen. Auf Basis von Forschungsarbeiten, die sich mit dem "Stein-Massaker" im Detail auseinandersetzen, lässt sich die Szene in Mautern annähernd rekonstruieren: Die drei Häftlinge werden mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem bewaffneten Kommando auf offener Straße aufgegriffen und in ein Fahrzeug gezwungen.

Der Wagen fährt nur wenige Hundert Meter weit und hält nahe der damaligen Luftwaffenkaserne in Mautern. Man lässt absitzen und führt Praher mit seinen beiden Gefährten auf eine mit Splitterschutzgräben durchzogene Wiese direkt neben der Straße, die im Volksmund "Exerzierwiese" genannt wird. Sie müssen sich an den Rand einer Grube aufstellen. Ihnen wird befohlen, die Schuhe auszuziehen, denn Schuhwerk gilt als Mangelware. Das wissen offenbar jene sehr genau, die hier mit kalter Routine am Werk sind. Dann fallen Schüsse. Die Mörder lassen die Leichen an Ort und Stelle liegen, besteigen ihren Wagen und fahren weiter Richtung Furth bei Göttweig, um nach weiteren Häftlingen Ausschau zu halten. Die ganze Aktion hat vermutlich nur wenige Minuten gedauert.

Derartige Szenen spielen sich an diesem und dem darauffolgenden Tag an zahlreichen Orten rund um Krems ab, so etwa in den Gemeinden Furth bei Göttweig, Gedersdorf, Hadersdorf am Kamp, Paudorf und Statzendorf. Mehrere Hundert Häftlinge werden außerhalb der Strafanstalt ermordet und in der Nähe der Tatorte verscharrt. Ein Großteil der Opfer liegt dort heute noch würdelos in unmarkierten Gräbern.

Provisorisch begraben

Aufgeschreckt von den Schüssen laufen einige Mauterner Frauen mit Bettlaken als improvisiertem Verbandszeug hinaus vor die Stadt. Doch sie können niemandem mehr helfen, die Männer sind tot. Man verscharrt die Leichen provisorisch. Ob sie später exhumiert werden, ist ungeklärt. Wahrscheinlich liegen Ferdinand Praher und seine zwei unbekannten Begleiter noch immer draußen vor der Stadt.

Luftbild von Mautern, zwei Tage nach der Erschießung der Häftlinge aufgenommen.
Foto: Luftbilddatenbank Dr. Carls GmbH, Bild-Nr. 3073, 08.04.1945

Zwei Tage nach der Erschießung der Häftlinge, am 8. April 1945, überfliegt eine US-amerikanische Fotoaufklärungsmaschine vom Typ F-5 Lightning der 15th US Air Force die Stadt Mautern und fotografiert den Ort an der Donau samt Kasernenareal aus großer Höhe. Die hochauflösenden Kameras an Bord der Maschine fertigen um die Mittagszeit Serien von Senkrechtaufnahmen an. Auf diesen Fotos ist der mutmaßliche Tatort der Mordaktion am südöstlichen Ortsrand von Mautern abgebildet. Rund 20 Hektar umfasst die Verdachtsfläche, wo die sterblichen Überreste vermutet werden (Ausschnitt A).

Auf demselben Foto ist am oberen rechten Bildrand auch das Gelände der Strafanstalt Stein gut zu erkennen samt dem frisch ausgehobenen Massengrab für die direkt im Gefängnis ermordeten Häftlinge (Ausschnitt B).

Letzte Chance auf eine würdige Bestattung

Auf Teilen der Verdachtsfläche in Mautern plant die hiesige Stadtgemeinde nun die Errichtung eines neuen kommunalen Zentrums. Das Bauprojekt könnte wohl die letzte Chance sein, nach 75 Jahren die sterblichen Überreste der drei Vermissten aufzuspüren und den Männern eine würdige Bestattung zu ermöglichen.

"Er hatte sich sehr auf ein Wiedersehen mit seiner Frau gefreut", gibt Johann Neumayer im Zuge seiner Zeugeneinvernahme 1946 mit Bezug auf Praher zu Protokoll. Ferdinand Prahers Ehefrau Johanna hat ihre letzte Ruhestätte auf dem Friedhof in Böheimkirchen gefunden. Am Grabstein eingraviert steht auch der Name ihres Mannes. Wird man in Mautern tatsächlich fündig, könnten die Eheleute zumindest im Tode wiedervereint werden. (Karl Reder, 29.6.2020)