Christelle Dabos hält ihr sprachlich und erzählerisch hohes Niveau alle vier Teile der "Spiegelreisende"-Saga durch.

Foto: Catherine Helie / Editions Gallimard
"Und eines Tages, als Er äußerst verstimmt war, beging Er eine ungeheure Torheit. Gott brach die Welt in Stücke."

Das Stück, Arche genannt, auf dem die Ereignisse um die Spiegelreisende, Ophelia, ihren Anfang nehmen, trägt den Namen Anima. Hier führen die Dinge ein Eigenleben – Kutschen bewegen sich ohne Pferde, zerbrochene Gläser heilen in ein paar Tagen, Gebäude knarzen protestierend, wenn ihnen etwas missfällt.

Der Geist in den Maschinen ist quicklebendig auf Anima. Wie so vieles in diesem gefeierten Stück fantastischer Literatur könnte man es auch als ironischen Kommentar auf die Zustände außerhalb dieser Buchwelt verstehen, in unserer sogenannten "Wirklichkeit".

Ist hier doch nicht selten das Gegenteil der Fall: Beseelte Wesen werden wie Gegenstände behandelt, vom Model als beweglichem Kleiderständer bis zu den "Biorobotern", den Männern, die in Tschernobyl die Arbeit von Maschinen erledigten, weil diese der Radioaktivität nicht gewachsen waren. Human Resources sind das Kanonenfutter in Friedenszeiten.

Ein eigener Weltentwurf

Die lebendigen Dinge auf Anima haben ein Gedächtnis. Ophelia, dünn, zarthäutig, klein gewachsen und stets hinter einer dicken Brille und einem dreifärbigen Schal verborgen, kann als eine der Wenigen darauf zugreifen. Sie ist eine begabte Leserin und kann durch Berührung die Geschichte der Besitzer dieser Objekte ans Licht bringen. Passenderweise führt sie ein beschauliches Leben als Leiterin eines Museums für Frühgeschichte – sprich die Geschichte vor Gottes "ungeheurer Torheit" (seit der im Übrigen Religionen zu amüsanter bis befremdlicher Folklore verkümmert sind).

Ophelias friedvolles Dasein findet ein jähes Ende, als sie mit einem völlig Unbekannten zwangsverlobt wird. Sie ist zur Übersiedlung auf die Arche Pol gezwungen, wo ihr Zukünftiger die ebenso wichtige wie allseits verhasste Position des obersten Finanzbeamten einnimmt. Thorn macht es indes den Menschen ausgesprochen einfach, ihn als Feind zu sehen, ist er doch mürrisch, rüpelhaft, autoritär und bar jeder Emotion oder Empfindungsfähigkeit.

Auf Pol herrscht auch sonst glassplitternde Eiseskälte. Die Angehörigen verschiedener Clans mit unterschiedlichsten Eigenschaften von Gedankenmanipulation bis zum gedankengesteuerten, aber blutigen Aufschlitzen ringen in einem nicht enden wollenden Strudel aus Intrigen, Gewalt und Tod um die Vorherrschaft – Vertrauen und Wahrheit sind die wertvollsten, weil so gut wie nicht vorhandenen Güter.

Der Tanz um das Goldene Kalb wird nicht zuletzt auf dem Rücken der Dienerschaft ausgetragen, gleichsam "dehumanized resources": In Frau Dabos’ Buchwelt wird die neoliberale Wirklichkeit von allem beschönigendem Gepränge entblößt und die "menschlichen Rohstoffe" als das gezeigt, was sie sind: jederzeit austauschbare Betriebsmittel.

Alles ist Illusion

"Du wirst den Winter nicht überleben", hat Thorn Ophelia prophezeit. Und je mehr die junge Frau über ihre neue Welt zu begreifen meint, desto wahrhaftiger scheint diese Vorhersage zu werden.

"Lack über dem Schmutz": So wird Pol treffend charakterisiert. So gut wie alles ist Illusion, glänzender Schein, der magisch die unbarmherzige Wirklichkeit verbirgt. Wir stehen am Abgrund, was also ist zu tun? Natürlich: Wegsehen. Leugnen. Weiterlügen. Vergleiche mit dem Verhalten gegenüber Global Warming und anderen existenzbedrohenden erdumspannenden Krisen drängen sich auf. Und Wahrheit, was soll das überhaupt sein? Wahr ist, was gesagt wird, wahr ist, was geglaubt wird.

Doch zurück zum Text. Der ist sprachlich herausragend (übersetzt) und in puncto Bildkraft mit modernen Klassikern der All-Age-Literatur wie der Tinten-Trilogie von Cornelia Funke auf Augenhöhe. Die Nominierung des ersten Bandes der Tetralogie, Die Verlobten des Winters, für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2020 erscheint als nachgerade logische Wahl.

Der Weltentwurf von Christelle Dabos, deren eigenes Universum nach einer Krebsdiagnose 2007, dem Jahr, in dem sie mit den Arbeiten an ihrem Epos begann, wohl ebenfalls in Stücke zerschlagen wurde, ist wundersam und schrecklich und einzigartig.

Als Leser versinkt man darin und kann sich an den ab und zu schmunzeligen, oft schaurigen und stets faszinierenden Geschehnissen nicht sattlesen, egal ob man diese als ausschließlich hochklassige Unterhaltung oder auch als überbordend fantastischen Kommentar zum Weltgeschehen in sich verwirklicht.

Für Menschen von 14 bis 114

Dabos hält durchgehend ihr hohes Niveau, sprachlich wie erzählerisch und auch in Bezug auf die komplexe Darstellung einer Buchwirklichkeit, in der "jedes Wort, jede Betonung, jede Geste" von Bedeutung ist.

Die Reise in ihr Universum verlangt nach einer gewissen Leseerfahrung, um ihre ganze prachtvolle Wirkung entfalten zu können – dafür tut sie dies unterschiedslos für Menschen von 14 bis 114. Die Welt ist um 2000 Seiten reicher geworden – die ab sofort auch in deutscher Sprache vollständig vorliegen. (Helmuth Santler, 27.6.2020)

Cover: Insel Verlag

Christelle Dabos, "Die Spiegelreisende 1 – Die Verlobten des Winters". 18,50 Euro / 535 Seiten. Insel-Verlag, Berlin, März 2019

Cover: Insel Verlag

"Die Spiegelreisende 2 – Die Verschwundenen vom Mondscheinpalast". 18,50 Euro / 613 Seiten. Insel-Verlag, Berlin, Juli 2019

Cover: Insel Verlag

"Die Spiegelreisende 3 – Das Gedächtnis von Babel". 18,50 Euro / 520 Seiten. Insel-Verlag, November 2019

Cover: Insel Verlag

"Die Spiegelreisende 4 – Im Sturm der Echos". 18,50 Euro / 560 Seiten. Insel-Verlag, Berlin, Juni 2020