Weil wir hunderprozentig auf unser schönes Österreich vertrauen sollen: Ministerin Elisabeth Köstinger und die nach köstlichem Apfelmost duftende Heimatliebe.

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Die Tinte auf den Zeugnisblättern unserer Kleinsten ist noch nicht trocken, schon ziehen die lieben Wienerinnen und Wiener Ende kommender Woche hinaus aufs Land. Pünktlich zu Ferienbeginn empfinden Groß und Klein allerhand Fernweh. Wie beim osmotischen Druckausgleich fließt das vorher sorgfältig zum Sieden gebrachte Stadtpublikum nach allen Seiten ab. Da verheißt das dicht belaubte Umland einige Abkühlung, und sei es durch die zwingende Entfaltung seiner zwergalpinen Bergschatten. In lose ansteigender Reihenfolge: Anninger, Eichkogel, Rax.

Wer in Corona-Zeiten noch immer an Fernweh laborieren sollte, der muss dieses Grundbedürfnis heuer reflexhaft mit einem Gespür für das Naheliegende verbinden. Der große Grenzverkehr birgt nicht nur in den Augen sorgenvoller Regierungsvertreter erhebliche Risiken. Die dringende Empfehlung, daheim zu bleiben, um wenigstens in vertrauter Umgebung Abstand zu wahren, hat die lange genug auf Pandemie-Kost gesetzte Werbeindustrie prompt zu patriotischen Gipfelstürmen veranlasst.

Weg zu sein, bedarf es wenig. Daheim? Ist dort, wo möglichst viele teure Bikes mit profilierten Reifen rumpelnd zu Tal stürzen! Kein abgelegenes Eck, verborgen hinter einem noch so trüben Stausee, das sich nicht umgehend zur Genussregion ernannt sieht.

Findige Nahversorger

Unsere Nahversorger, mit den Grundbedürfnissen der einheimischen Kostgänger nur zu innig vertraut, ersinnen die zur ferialen Problemlage passenden Werbefiguren. Sie kreieren Heim-Urlauberinnen wie "Lisa", die "nur eines wollen": eine Qualität, der sie "zu hundert Prozent vertrauen". Denn egal, ob Lisa bloß anmutig ihre Füße in den Teich steckt oder wonneschaudernd ein Stück Grillfleisch verzehrt: Sie tut das umso lieber, als sie dadurch auf die potenziell virenverseuchte Gastlichkeit irgendwelcher dubiosen Südländer bereitwillig Verzicht leistet. Zuhause schmeckt es halt doch am besten.

Aller Zauber, der von der Fremdartigkeit ferner Länder und Kulturen verlässlich verbürgt wird, weicht der (vermeintlich weisen) Einsicht in das Nähe-Arrangement. Abenteuer mit ungewissem Ausgang, sonst ein Grundingredienz fortgeschrittener Urlaubsplanung, schrumpft auf ein Liliput-Format. Freuen darf sich der Sommerfrischler von 2020 vornehmlich auf Begegnungen in der Schmalspurbahn. "Wer mag bloß dies zauberhafte Wesen hinter der froschgrün bestickten Atemschutzmaske sein?" Sogar erfahrene Kurschattenmaler wie Arthur Schnitzler müssten ob solcher mangelhaften Aussichten still aufseufzen.

Doch das Verhängnis lässt sich auch durch rigorose Heimatliebe nicht von der Schwelle weisen. In Edgar Allan Poes Schauergeschichte "Die Maske des roten Todes" schließt sich ein prunkender Fürst mitsamt seinem Hofstaat hinter den Mauern einer Abtei ein. Die bluttriefende Pest soll für immer aus seinem Gesichtskreis verschwunden bleiben!

Fürst und Gefolge frönen hinter "verschweißten Riegelbolzen" einem betont liederlichen Lebenswandel. Doch was geschieht? Ein todbringender Maskierter verschafft sich prompt Zutritt zu den Abgekapselten. Die Folgen: Zeter, Mordio, Wehgeschrei.

Als sie nach der schrecklichen Erscheinung greifen, erweist diese sich als hohler Popanz: "unbewohnt von jeglicher greifbaren Gestalt". Man muss unbedingt festhalten: In Poes funkelnder Prosaskizze findet sich kein Platz für Minister Anschober, für die gewissenhafte Vorsorge einer Bundesregierung, für Ministerin Köstingers nach gesundem Apfelmost duftende Heimatliebe. Sonst hätte die Pandemie in Gestalt des "roten Todes" sich zu Fürst Prosperos Wüstlingsschloss garantiert niemals Zutritt verschafft. (Ronald Pohl, 27.6.2020)