Den Unkenrufern zum Trotz blieb die Inflation, also ein breiter Anstieg der Preise, aus

Illustration: Marie Jecel

Während der Pandemie haben die Menschen in Österreich offenbar ihre Liebe zu Inlineskates entdeckt. Wer sich derzeit in Sportgeschäften umschaut, bekommt die Auskunft, dass sämtliche Marken und Größen ausverkauft sind. Schon im Lockdown wurden viele Skates online geordert – jetzt, wo Urlaub in Österreich angesagt ist, rüsten sich zusätzlich viele Kunden mit Rollschuhen aus, erzählen Verkäufer. Dazu kommt es Corona-bedingt zu Lieferverzögerungen.

Steigende Nachfrage bei begrenztem Angebot: Dieser Mix hat zu einem kräftigen Preisanstieg geführt. Um satte 15 Prozent waren Inlineskates im März 2020 laut Statistik Austria teurer als im Vergleichszeitraum 2019. Und auch jetzt liegen die Preise immer noch sechs Prozent über jenen des Vorjahres.

Manche Ökonomen hatten als Folge der Corona-Pandemie bei vielen Produkten mit einer ähnlichen Entwicklung gerechnet. Weltweit standen zahlreiche Produktionsbetriebe still, an den Grenzen stauten sich die Lkws. Zugleich stieg die Nachfrage nach manchen Gütern, es kam zu Hamsterkäufen in Supermärkten.

Doch den Unkenrufern zum Trotz blieb die Inflation, also ein breiter Anstieg der Preise, aus. Im Mai stiegen die Preise im Euroraum um 0,1 Prozent, im April waren es 0,3 Prozent. Sogar wenn man Energie weglässt – Öl hat sich stark verbilligt –, stiegen die Preise zuletzt um nur 1,4 Prozent. Das liegt deutlich unter dem Zielwert der Europäischen Zentralbank (EZB), die eine Teuerungsrate von knapp unter zwei Prozent anpeilt.

Wo bleibt all das Geld?

Dabei mag diese Entwicklung verwundern. Die wichtigsten Notenbanken haben in den vergangenen Wochen mehr Geld als je zuvor in so kurzem Zeitraum geschaffen, um die Wirtschaft zu stabilisieren. Die EZB, die Fed und die Bank of Japan haben seit März fünf Billionen US-Dollar zusätzlich in die Märkte gepumpt. Müsste das nicht die Preise antreiben?

So steht es in den Lehrbüchern: Eine kräftige Ausweitung der Geldmenge geht mit steigender Inflation einher. Bereits in den Jahren vor Corona haben Notenbanken ihre Bilanzen ausgeweitet und mehr Geld bereitgestellt, so auch die EZB, um ihr Inflationsziel zu erreichen. Die Zwei-Prozent-Marke blieb aber auch da stets in weiter Ferne.

Der Ökonom Barry Eichengreen rechnet eher mit fallenden Preisen, also einer Deflation. Das Risiko dabei: Kunden und Unternehmen könnten Ausgaben immer weiter aufschieben, weil sie mit noch tieferen Preisen rechnen. Das würde die Wirtschaft abwürgen.
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Die Erklärung: Zentralbanken steuern nur einen kleinen Teil der Geldmenge. Sie versorgen Banken mit Zentralbankgeld. Dieses Geld brauchen Kreditinstitute etwa, um Verbindlichkeiten untereinander zu begleichen. In der Eurozone existieren aktuell mehr als 3,5 Billionen Euro an Zentralbankgeld. Die gesamte Geldmenge liegt aber bei 13, 6 Billionen Euro. Wie kommt das?

Der überwiegende Teil des Geldes entsteht, wenn Banken Kredite an Kunden und Unternehmen vergeben. Sie schöpfen das sogenannte Buchgeld dafür selbst. Seit der Finanzkrise haben Zentralbanken die Geldmenge zwar ausgeweitet, während die gesamte Geldmenge jedoch kaum angestiegen ist. Unternehmen haben zu wenig investiert; entsprechend gering war die Nachfrage nach Bankkrediten.

Geldmenge wächst

In den vergangenen Wochen hat sich das geändert. Die gesamte Geldmenge wächst im Euroraum aktuell doppelt so schnell wie im Schnitt der vergangenen Jahre: Im April waren es plus acht Prozent. In den USA ist die Entwicklung ähnlich.

Ist das ein Grund, um sich vor Inflation zu fürchten? Viele Ökonomie sagen Nein. Entscheidend sei nämlich nicht bloß die Geldmenge, sondern was damit geschieht. Derzeit ist die Verunsicherung bei Unternehmen und Konsumenten so groß, dass die Nachfrage nach Autos, Kühlschränken oder Maschinen gedämpft ist. Inlineskates bleiben die Ausnahme.

Die Kreditvergabe durch Banken ist aktuell deshalb gestiegen, weil Kreditinstitute überall staatlich garantierte Notkredite an notleidende Unternehmen vergeben. Der Berkeley-Ökonom Barry Eichengreen sieht deshalb die Gefahr durch fallende Preise als ein viel höheres Risiko.

Veränderung der Wirtschaftswelt

Fraglich ist, was geschieht, wenn die Wirtschaft nach Corona anspringt. Olivier Blanchard, früherer Chefökonom des Währungsfonds, geht davon aus, dass Preise dann spürbar anziehen könnten. Alles hänge davon ab, ob die Notenbanken in dem Moment, wenn Preise stärker steigen als ihr Zielwert, bereit sind, gegenzusteuern. Er sieht eine Gefahr, dass sie es nicht sind, weil Staaten so sehr von der Finanzierung durch die Notenbanken abhängen.

Der deutsche Ökonom Lars Feld sagt, dass er zwar aktuell "keinen Grund sieht, beunruhigt zu sein", aber die Ausweitung der Geldmenge beobachtet werden müsse. Zudem bestehe, noch bevor die Wirtschaft sich voll erhole, ein Inflationsrisiko. Viele Unternehmen machen aktuell weniger Umsatz, konnten aber ihre Ausgaben, etwa für Personal, nicht entsprechend stark kürzen. Ihre Produktivität leidet also. Bei diesen Firmen bestehe der Druck, die Preise anzuheben, um wieder höhere Gewinne zu erzielen.

Aber es könnte auch anders kommen. Die Wirtschaftswelt hat sich verändert. Globalisierung und Technologiefortschritt lassen nahezu jederzeit eine Erhöhung der Produktion von Gütern zu. Apps sorgen dafür, dass Preise vergleichbar sind. Wenn Inlineskates in Land X nicht verfügbar sind, kann Amazon sein Angebot von Land Y umschichten, so mehr Waren bereitstellen und damit billiger anbieten.

Gibt es also überhaupt noch eine klassische Inflation in Industrieländern? Die kommenden Monate werden zeigen, ob Corona dazu beitragen könnte, dass die ökonomischen Lehrbücher neu geschrieben werden müssen. (András Szigetvari, 27.6.2020)