Die Proteste im Rahmen der #BlackLivesMatter-Bewegung haben ein ernstes Thema auf die Tagesordnung gesetzt, schreibt die deutsche Literaturwissenschafterin Andrea Geier in ihrem Gastkommentar, nämlich: Wie wird wessen Geschichte in der Erinnerungskultur repräsentiert?

Denkmäler auf großen Plätzen sind nützliche Orientierungspunkte. Man kann sich dort gut verabreden. Unter wessen überlebensgroßer Statue man sich trifft, wird oft nicht bewusst wahrgenommen: ein General, ein König, eine Kaiserin? Wir sind daran gewöhnt, dass Statuen unterschiedlicher historischer Persönlichkeiten den öffentlichen Raum prägen. Im Ensemble historischer Gebäude empfindet man sie deshalb oft als passend. Andere Skulpturen in derselben Kulisse wären dagegen eine Überraschung: etwa ein Paddington-Bär, um nur einen der eher launigen Vorschläge zu nennen, die nach dem Sturz der Statue des Sklavenhändlers Edward Colston in Bristol auf Twitter kursierten.

Illustration: Michael Murschetz

Wer nun beim Lesen tief einatmet, weil diese Beschreibung angesichts der aufsehenerregenden Denkmal-Aktionen aus den USA, England und den Niederlanden im Ton nicht ganz angemessen erscheint, hat recht. Es ist ein ernstes Thema, das die Proteste im Rahmen der #BlackLivesMatter-Bewegung auf die Tagesordnung gesetzt haben: Wie wird wessen Geschichte in der Erinnerungskultur repräsentiert? Wer hat an der Statue von Colston keinen Anstoß genommen, für wen war sie gewöhnlich und bloß dekorativ? Und für wen stellte es eine Provokation dar, dass er immer noch mit einer Statue geehrt wurde?

Ängste geweckt

Die medialen Bilder einzelner Statuenstürze wurden von Jubel begleitet, weckten aber auch Ängste. Eine Frage war, wo überhaupt Kolonialdenkmäler stehen. Dass das gar nicht so schnell zu beantworten ist, demonstriert, wie viel Nachholbedarf es im Umgang mit der Kolonialgeschichte gibt. Diskutiert wurde außerdem darüber, welche Bedeutung die unzureichende Aufarbeitung der nationalen und europäischen Kolonialgeschichte für den Rassismus der Gegenwart hat. Betrachtet man beides zusammen, zeigt sich: Die aktuellen Ereignisse, so spontan und überraschend sie an den jeweiligen Orten geschahen, lassen sich in bereits lang andauernde Auseinandersetzungen um die Relevanz der Gedächtnispolitik für die Gegenwart einordnen.

Unerledigte Aushandlungsprozesse

Es geht um unseren Umgang mit einem kulturellen Erbe: ein Erbe, in dem die Erklärung der Menschenrechte eben nicht für alle Menschen galt. Die Versuchung scheint groß, die gegenwärtigen Ereignisse umstandslos in die Rhetorik eines Kulturkampfes einzusortieren und die Form des Protests dafür als Ausrede zu benutzen. Eine konstruktivere Sichtweise wäre, zu fragen, ob es nicht genau diese Form brauchte, um eine neue Dringlichkeit für bekannte, aber eben unerledigte Aushandlungsprozesse herzustellen. Tatsächlich geht es um ein Anliegen, dem man sich gar nicht verweigern kann. Wir haben es mit einem nicht eingelösten Versprechen zu tun, wer dieses "wir" ist, wenn von "unserer" Gesellschaft und ihrer Erinnerungskultur gesprochen wird.

Der öffentliche Raum, in dem wir uns bewegen, hat verschiedene Geschichtsschichten, einige davon sind sichtbar, andere nicht. Die Denkmäler werden als Bestandteil einer repräsentativen Architektur erlebt. Sie sind ein Zeichen dafür, dass eine Person oder ein Ereignis als ehrungswürdig gilt. Oder zumindest einmal gelten sollte. Wir können die vormals erwartete Huldigung heute verweigern. Uns bewusst machen, dass es keine eindeutigen Bewertungen gibt, dass neue Aspekte alten hinzuzufügen sind. Um eine solche Distanz herzustellen, braucht es Wissen und Kontexte. Woran denkt "man", wenn "man" eine Statue von Bismarck sieht? An die Sozialgesetzgebung im Deutschen Kaiserreich oder auch an die Kolonialgeschichte? Und wie ordnet man den Reichskanzler dann ein, der zwar nicht begeistert daran arbeitete, Kolonialreichträume des Wilhelminismus Wirklichkeit werden zu lassen, aber aus ökonomischen, nicht aus humanitären Erwägungen?

Ambivalenzen aushalten

Wer beim Anblick einer mit roter Farbe beschmierten Bismarck-Statue in Hamburg anmerkt, dass Erinnerungskultur auch darin bestehe, Ambivalenzen auszuhalten, hat recht. Dass Statuen herumstehen, nötigt niemandem ein Einverständnis ab. Trotzdem behalten Denkmäler einen repräsentativen Charakter, solange nicht alle Betrachterinnen und Betrachter einen Anlass haben, sich aktiv mit den Ambivalenzen der Erinnerung zu befassen. Weder die ambivalenten Bewertungen von historischen Persönlichkeiten und Ereignissen noch die Kolonialverbrechen sind bereits fest in der Erinnerungskultur verankert.

Was tun?

Was also tun mit den in Bronze gegossenen oder in Stein gehauenen Denkmälern? Abbauen? Umgestalten? Andere Denkmäler bauen? Dies alles und mehr. Abbauen und andere Denkmäler an deren Stelle setzen kommt bei Kolonialverbrechern wie Colston sicherlich infrage. Für das Gros der diskutierten Denkmäler gilt: Sie müssen umgearbeitet werden, damit sie die gedächtnispolitische Bedeutung bekommen, die wir ihnen in der Gegenwart zukommen lassen wollen. Ob dafür eine Informationstafel ausreicht, ob man das Denkmal selbst umgestaltet oder durch ein zweites ergänzt, kann im Einzelfall diskutiert werden. Vor allem die Erinnerung an den Völkermord an den Herero und Nama fehlt im öffentlichen Raum.

Das Einzige, was wir uns nicht mehr leisten können, ist: gar nichts zu tun. Alles nur Symbolik? Es wären wichtige symbolische Gesten. Es wären unübersehbare Zeichen, dass es eine Gesellschaft ernst meint damit, sich einem Aushandlungsprozess zu stellen, und sich bewusst wird, für wen sie Gedächtnispolitik macht. Dafür müssen weder alle Statuen unterschiedslos behandelt werden, noch ist zu befürchten, dass diese Aktionen auf andere Gebiete übergreifen, wie mit metaphorischen "Denkmalsstürzen" oft beschworen wird. Es gilt, konkret zu bleiben. (Andrea Geier, 27.6.2020)