Auch Twitter steht durch Donald Trumps Handeln unter Druck.

Illustration: STANDARD

Freude kann Donald Trump wohl nicht empfinden, wenn er in die Zeitungen blickt. Ex-Mitarbeiter kritisieren ihn in Interviews und Büchern als Gefahr für die Demokratie; die Wirtschaft, die er zum Rückgrat seiner Wahlkampagne machen wollte, lahmt; die Corona-Infektionen steigen just in jenen Staaten, die Trumps Ruf nach Lockdown-Lockerungen gefolgt sind; zu seiner Wahlveranstaltung in Tulsa, Oklahoma, kam nicht die vom US-Präsidenten erwartete Million, sondern ein Bruchteil davon: schlappe 6200 Zuschauer. Und Umfragen sagen ihm für die Wahl im November ein Desaster voraus.

Trump, das verraten seine heftigen Angriffe gegen etablierte Medien, liest diese mit fiebrigem Eifer – und mehr noch: Er glaubt ihnen. Der mächtigste Mann der Welt ahnt ein drohendes Debakel bei der Präsidentschaftswahl im November – und versucht nun vorbeugend, die Legende von der großangelegten Manipulation zu spinnen. Anders sind die Twitter-Tiraden kaum zu erklären, in denen der US-Präsident die Corona-bedingte Ausweitung der Briefwahl als Einfallstor für massiven "Wahlbetrug" darstellt.

"SKANDAL UNSERER ZEIT!"

"MANIPULIERTE WAHL 2020" – in Großbuchstaben schrie das der Präsident vergangenen Montag seinen Anhängern via Twitter virtuell entgegen. Fremde, nicht näher genannte Staaten würden Stimmzettel für die Briefwahl drucken und sie millionenfach einsenden, so Trump. "ES WIRD DER SKANDAL UNSERER ZEIT SEIN!"

Belege für seine Ansichten lieferte der US-Präsident, wie so oft, nicht. Doch während das Social Network den 82 Millionen Followerinnen und Follower starken First Twitterer die längste Zeit unwidersprochen mobben und wüten ließ, kam es Ende Mai zu einem Wendepunkt in der Beziehung zwischen Trump und seinem Lieblingsverlautbarungswerkzeug.

Seitdem verweist Twitter dezidiert unter manchen irreführenden Tweets auf die Fakten. So ist auch unter einem Tweet zu möglicher Manipulation von Ende Mai in blauer Schrift ein Ausrufezeichen zu sehen und der Satz: "Erfahren Sie die Fakten zu Briefwahlen." Wer darauf klickt, wird auf eine Seite weitergeleitet, auf der Artikel von Medien wie CNN oder der Washington Post zitiert sind. Sie widerlegen Trumps Behauptungen: Wahlkuverts werden in den meisten Staaten via Sendungsverfolgung überwacht und oft so angelegt, dass sie durch Farbe, Papier und Layout auf ein nur kleines Gebiet verweisen. Wissenschaftliche Belege für den Missbrauch von Briefwahlen sind rar.

Wer darf Fakten checken?

Für die Social-Media-Unternehmen im kalifornischen Silicon Valley wird der US-Wahlkampf 2020 zum Moment der Wahrheit im Kampf gegen Desinformation. Lange sträubte man sich, Inhalte mit Falschinformation einzuordnen oder zu löschen. Während Twitter nun langsam die Richtlinien verschärft, bleibt die Linie bei Facebook nach wie vor unklar. Aber die Frage, wie mit den Unwahrheiten aus der Feder des Mannes im Weißen Haus umzugehen ist, muss über kurz oder lang beantwortet werden. Doch ist es tatsächlich die Aufgabe eines Social-Media-Unternehmens, Falschinformationen aufzudecken?

Nein, meint das Weiße Haus – und nutzt für die Argumentation eine wunde Stelle der Social Networks. Wer Postings bewerte oder redaktionelle Inhalte wie Factchecks liefere, der sei nicht allein Anbieter einer neutralen Plattform, sondern Verleger. Damit wären Twitter, Facebook und Co tatsächlich für jene Inhalte verantwortlich, die Userinnen und User auf ihren Plattformen publizieren. Die Anbieter müssten moderieren oder könnten geklagt werden – eine ernste Bedrohung für ihr Geschäftsmodell. Doch selbst wenn es schlüssig scheint, die Social Networks für bessere Moderation in die Verantwortung zu nehmen: Dass Twitter und Facebook festlegen, was "die Wahrheit" ist, finden Kritiker bedenklich.

Keine Werbung bei Hass

Auf dieses Argument hatte sich Facebook-Chef Chef Mark Zuckerberg lange Zeit zurückgezogen. Doch zunehmend wogt ihm nicht nur extern, sondern auch durch seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter heftiger Protest entgegen.

Was aber weit schwerer wiegen dürfte: Auch der wirtschaftliche Druck auf das Unternehmen steigt. Große Marken wie The North Face und Patagonia stornierten ihre Werbung bei Facebook ebenso wie die für liberalen Aktivismus bekannte Eismarke des Unilever-Konzerns Ben & Jerry’s. Flankierend schlossen sie sich der Initiative "Stop Hate for Profit" an: Facebook solle sein Moderationsteam drastisch ausbauen und Werbung von Beiträgen entfernen, die dezidiert hasserfüllt oder falsch seien.

Ein Stück weit hat Facebook nun nachgegeben. Wie am Freitagabend bekanntwurde, will das Unternehmen nun Posts mit einem speziellen Label versehen, die zwar gegen die eigenen Richtlinien verstoßen – etwa Unwahrheit über die Wahlen verbreiten –, aber dennoch nicht gelöscht werden können. Das ist stark auf den US-Präsidenten zugeschnitten. Denn dass man Trump nicht löschen könne, begründete Facebook in der Vergangenheit meist damit, dass seine Nachrichten einen zeitgeschichtlichen Wert hätten. Zudem wird nach den Worten Zuckerbergs Werbung verboten, die insinuiert, Minderheiten, Migrantinnen und Migranten, Asylsuchende und Angehörige bestimmter Religionen oder Staaten seien eine Bedrohung. Wie genau das umgesetzt werden soll, ist aber noch offen.

Als jedoch die Kampagne um Trumps demokratischen Gegenkandidaten Joe Biden Facebook zur Löschung von Postings aufforderte, beging sie einen strategischen Fehler. Denn wenn Plattformen im Verdacht stehen, Inhalte auf Zuruf zu löschen, können sie nicht mehr als unabhängig gelten.

Wertlose wertvolle Umfragen

Wie aber könnte Biden der Trump’schen Wahlmanipulationslegende sonst wirksam begegnen? Etwa, indem er immer wieder auf Umfragen verweist, die ihn deutlich vorne zeigen – und damit verdeutlichen: Ein Sieg wäre keine Überraschung und daher wohl kaum Betrug. Biden liegt laut der Plattform Fivethirtyeight derzeit im Schnitt neun Prozentpunkte vor Trump. Die Strategie birgt aber auch ein Risiko: 2016 waren viele Wählerinnen und Wähler zu Hause geblieben, weil ein Sieg Hillary Clintons allzu sicher schien. Es kam bekanntlich anders. "Umfragen sind nichts wert", twittert Biden daher fast im Tagestakt – nicht ohne sie weiter zu zitieren.

Nicht wiederholen will er aber auch einen anderen Fehler von 2016 – nämlich Trump in die Falle zu gehen. Damals bezeichnete Hillary Clintons Kampagne Trumps Behauptungen so lange als "Fake News", bis dieser den Begriff für sich adaptierte, zu seiner Trademark machte und ihn seither bemüht, um seriöse Medien zu diskreditieren. Was tun also, wenn man monatelang Wahlbetrug ausschließt und dann vielleicht zu dessen Opfer wird?

Bleibt noch der Versuch, Trump mit eigenen Waffen zu schlagen – so wie jene Mitglieder des Videoportals Tiktok, die Karten für Trumps Wahlveranstaltung in Tulsa aufkauften, ohne sie benützen zu wollen. Das aber würde bedeuten, Trumps Methode zu nutzen und die Politik statt eines Wettbewerbs der Argumente zu einem Match darüber zu machen, wer den anderen besser ins Bockshorn jagen kann.

Das wäre nicht nur für Joe Biden, der sich als Kandidat alter Schule inszeniert, ein Problem – sondern auch für alle, die ein Ende Trump’scher Unkultur wollen. (Manuel Escher, 27.6.2020)