Im Gastkommentar fragt Lehrer und Dozent Georg Cavallar, ob es nicht zu einer liberalen Gesellschaft gehört, dass auch abweichende Meinungen zumindest gehört werden sollten? Und ob das Gut der Meinungsfreiheit nicht höher zu gewichten sei.

Bedenken waren schon angebracht, als bei Demonstrationen Schilder mit dem Slogan "White silence is violence" herumgetragen wurden. Jetzt werden Denkmäler zerstört, Filme aus dem Programm genommen, Journalisten verlieren ihren Job, weil sie die Veröffentlichung von unerwünschten Kommentaren ermöglichen oder unbedenkliche Überschriften verwenden. Ein Professor verliert seine Anstellung an der Uni von Kalifornien (UCLA), weil er es mit guten Argumenten abgelehnt hatte, afro-amerikanischen Studierenden "special treatment" nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd und den Protesten zu gewähren.

Weltweit gehen derzeit zigtausende Menschen auf die Straßen, um gegen Rassismus zu demonstrieren.
Foto: Imago Images

So erfreulich es ist, wenn Menschen gegen Polizeiwillkür und Rassismus demonstrieren, Empathie für Floyd zeigen, die Zivilgesellschaft damit stärken und sich mehrheitlich gewaltfrei für Menschenrechte und den Gleichheitsgrundsatz einsetzen – es gibt auch wenig überzeugende Aspekte.

Ein Kategoriefehler

"White silence is violence": Schweigen kann sehr viel sein, etwa Feigheit, Naivität oder Desinteresse. Aber Schweigen mit Gewalt gleichzusetzen ist ein Kategorienfehler. Im Übrigen sind Proteste immer selektiv. Bislang wurde in keinem westlichen Land massiv gegen die Menschenrechtsverletzungen in China (Stichwörter: Hongkong oder "Umerziehungslager" für die Uiguren) oder die Kriegspolitik vom russischen Präsidenten Wladimir Putin in Syrien demonstriert. Der Logik des Slogans "White silence is violence" zufolge wäre dieses Schweigen auch "Gewalt". Das ist aber unsinnig.

Denkmäler stellen Menschen der Vergangenheit dar, die meistens Kinder ihrer Zeit waren, mit all ihren Vorurteilen und Lebensgewohnheiten, die heute belächelt werden. Aber auch wir sind Kinder unserer Zeit, auch wir haben unsere Vorurteile, die wir wohl genauso wenig bemerken wie Thomas Jefferson oder Robert E. Lee im 19. Jahrhundert. Vielleicht wäre hier etwas mehr historisch-kulturelles Verstehen und Verständnis angebracht? Vielleicht sollte die Grenze des Untragbaren dort gezogen werden, wo es sich auch nach damaligen Maßstäben um eindeutige Verbrechen handelte wie etwa die Kongogräuel unter Leopold II. von Belgien?

Frage der Grenze

Der Kommentar des republikanischen Senators in der New York Times, der den Einsatz von Soldaten gegen die Ausschreitungen im Zusammenhang mit Black-Lives-Matter-Protesten forderte, war sicherlich fragwürdig. Aber gehört es nicht zu einer liberalen Gesellschaft, dass auch abweichende Meinungen zumindest gehört werden sollten? Ist hier das Gut der Meinungsfreiheit nicht höher zu gewichten? Ist hier wirklich eine Grenze überschritten?

Der bereits genannte Professor – Gordon Klein – an der UCLA ist nun auf "involuntary leave", nachdem mehr als 20.000 Studierende eine Online-Petition unterschrieben, die seine Entlassung forderte. Ihm wurde rasch und pauschal Rassismus und eine Palette von anderen moralischen Defiziten vorgeworfen, wie etwa Ignoranz oder der Mangel an Empathie. Das ist bereits symptomatisch: Es gibt kein Abwägen der Gründe, die für oder gegen die Beibehaltung des Gleichheitsgrundsatzes in diesem konkreten Fall sprechen, sondern eine moralische Verurteilung. Und das, obwohl der zunächst involvierte Student, der den Vorschlag ursprünglich gemacht hatte, Klein für seine "anti-racist resources" in dessen Lehrveranstaltung gedankt hatte. Welch eine Ironie. Über seinen eigenen angeblichen Rassismus schreibt Klein: "I abhor the identification of individuals by their race, whether you plan to disfavor them or favor them. I believe in a race-neutral world." Aber vielleicht gilt bei manchen diese Neutralität schon als verkappte rassistische Ideologie? Und alle mit weißer Hautfarbe stehen unter Rassismusverdacht unabhängig davon, was sie sagen oder tun? Wo bleibt überhaupt die Freiheit der wissenschaftlichen Lehre? Hätte das geforderte Entgegenkommen nicht langfristig negative Folgen gerade für die afroamerikanischen Studierenden?

Fragen über Fragen, die gestellt und diskutiert werden sollten. Aber das ist offensichtlich unerwünscht, es herrscht der Aktivismus. Der fällt dann in genau jenes Freund-Feind-Denken zurück, den er vorgibt zu bekämpfen. Helen Pluckrose und andere "Hoaxer" haben mit ihren "Grievance Studies" als überzeugte Linke auf dieses Problem linker Gruppen verwiesen. Eine postmoderne, politisch korrekte Identitätspolitik untergräbt Aufklärung, Wissenschaft und die Freiheit des Denkens und hilft gerade damit dem gegnerischen "Lager".

Radikalisierung

Diese fatale Konsequenz ist auch in den genannten Fällen möglich. Sie zeigen nicht nur einen Mangel an Urteilsvermögen, da diese viel zu engen Grenzziehungen nicht begründbar sind. Sie helfen mit ihrer eigenen Radikalisierung nur der weiteren Radikalisierung des Trump-Lagers und bestärken dieses in seiner Ideologie. So leistet man einen "wertvollen" Beitrag, eine Gesellschaft zu spalten. "Alle Heuchelei beginnt im doppelten Maß, alle Unfreiheit in der Ausgrenzung", schreibt der Journalist Alexander Kissler in seinem Plädoyer für die unteilbare Meinungsfreiheit.

Was ist los mit diesem Land, in dem ich zweimal gelebt habe und das ich früher einmal wegen seiner republikanischen und liberalen Tradition bewunderte? Oder haben wir es einfach mit der globalen Ausbreitung eines gefährlichen Virus zu tun, nämlich der menschlichen Dummheit, dem Mangel an Urteilsvermögen, weil Antikörper in Form von Hausverstand, Selberdenken und Bildung fehlen? (Georg Cavallar, 27.6.2020)