Aufmüpfig, aber bedroht: Kirill Serebrennikow.

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Im Vorfeld des Urteils im Fall Kirill Serebrennikow herrschte in Moskau zunehmend Panik. Das Ziel des Prozesses sei, ihn und seine Mitstreiter ins Gefängnis zu bringen und anderen Angst einzujagen, erklärte Theaterlegende Konstantin Rajkin in einer Videobotschaft. "Mir scheint, ich hätte mein Leben vergeblich gelebt", schloss er. Rajkin war nicht allein. Selbst Ex-Kulturminister Aleksandr Awdejew, Russlands Botschafter im Vatikan, wandte sich in einem für russische Bürokraten höchst ungewöhnlichen Schreiben an das zuständige Bezirksgericht in Moskau.

Auch Corona hatte die Stimmungslage verschärft: Nicht nur, dass der Informationsaustausch stockte – auch Vorsprachen an der entscheidenden Stelle galten als praktisch ausgeschlossen. Hatte 2017 der Schauspieler Jewgeni Mironow bei seinem großen Fan Wladimir Putin für Serebrennikow intervenieren können, hatte sich der Präsident zuletzt pandemiebedingt äußerst rargemacht.

Bedingte Strafe

Obwohl die Anklage Gefängnisstrafen gefordert hatte, verurteilte Richterin Olessja Mendelejewa Regisseur Serebrennikow sowie seine Ex-Mitarbeiter Juri Itin und Aleksej Malobrodski wegen schweren Betrugs lediglich zu bedingten Freiheits- sowie Geldstrafen. Sie sah es als erwiesen an, dass die Angeklagten zwischen 2011 und 2014 für das Projekt "Platforma"Subventionen in der Höhe von 129 Millionen Rubel (1,65 Mio. Euro) entwendet hätten.

Dmitri Medwedew, der in seiner Amtszeit als Präsident (2008 und 2012) auf "Innovation" setzen wollte, hatte Serebrennikows Mehrspartenprojekt seinerzeit mit insgesamt 216 Millionen Rubel (2,76 Mio. Euro) subventionieren lassen. Der Starregisseur hatte bei "Platforma" etwa mit Inszenierungen von Shakespeares Sommernachtstraum für Furore gesorgt.

Die russische Anklage

Indizien dafür, dass er dabei Gelder gestohlen haben könnte, gibt und gab es nicht. Die Rede war jedoch vor einer problematischen Buchführung, für die die Buchhalter durchaus zur Verantwortung hätten gezogen werden können. Die russische Anklage zeigte dafür jedoch kein Interesse.

"Die Entscheidung in diesem Verfahren wurde nicht im Gericht gefällt, sondern in ganz anderen Büros unter Berücksichtigung der Meinung des Präsidenten", kommentierte der liberale Chefredakteur des Radiosenders Echo Moskvy, Aleksej Wenediktow.

Obwohl Anhänger des Regisseurs und Leiters des Moskauer Gogol-Zentrums die bedingte Verurteilung nahezu feierten, wird dieser Ausgang Serebrennikow auch in den nächsten Jahren massiv belasten. "Ich denke, dass er das Land verlassen und irgendwo ein Vertreter der Weltkultur sein wird. Das wird für ihn der einzige Ausweg sein, um wieder ruhig schlafen zu können", beklagte Schauspielerin Tschulpan Chamatowa im TV-Sender Doschd.

Bitte Rückzahlung

Seine Verurteilung zu drei Jahren bedingter Haft sowie einer Geldstrafe von etwa 10.000 Euro verbietet Serebrennikow auch die Änderung seines Wohnsitzes. Hinderlich ist gleichzeitig die Position der neuen Kulturministerin Olga Ljubimowa, die auf einer Rückzahlung des angeblichen Schadens besteht. Solange 1,65 Millionen Euro nicht zurücküberwiesen werden, dürfte ein formales Ausreiseverbot bestehen.

Sollte der Regisseur auf einer Emigration bestehen, könnte sich der Staat freilich als gnädig erweisen – auch den oppositionellen Ex-Oligarchen Michail Chodorkowski ließ man 2012 auf Nimmerwiedersehen ausreisen. Bis zu einem derartigen Paukenschlag oder einer etwaigen erfolgreichen Berufung gegen seine Verurteilung müsste Serebrennikow seine im Ausland geplanten Regiearbeiten einstweilen aber weiter aus der Moskauer Ferne erledigen. Für April 2021 steht etwa seine Inszenierung von Wagners Parsifal au dem Spielplan der Wiener Staatsoper.

Auswirkungen des Urteils sind jedoch auch für den staatlichen Kulturbetrieb an sich zu erwarten, die Selbstzensur wird weiter zunehmen. Denn die Causa verdeutlicht, dass nahezu jedem Theater- oder Museumsdirektor eine strafrechtliche Verurteilung drohen könnte, sofern dies einflussreiche Widersacher wünschten.

Jederzeit fliehen

Um jederzeit ins Ausland fliehen zu können, habe er eigens ein Flugticket mit offenem Datum gelöst, berichtete bereits vor einigen Jahren ein renommierter Moskauer Kulturmanager in Hintergrundgesprächen. Sein Beispiel könnte spätestens jetzt Schule machen.

Für zusätzliche Unruhe sorgt die Tatsache, dass drei Jahre nach dem spektakulären Auftakt der Causa nie klar wurde, wer den Regisseur (und warum) verleumdet hat. Außer Zweifel steht, dass die für ideologische Fragen zuständige Verfassungsschutzabteilung des Geheimdiensts FSB eine wichtige Rolle bei den Ermittlungen spielte. Gerüchte kursierten über den Racheakt eines Geheimdienstlers.

Spekuliert wurde aber auch über eine verdeckte Kampagne gegen den kürzlich entlassenen Kreml-Bürokraten Wladislaw Surkow, dessen Roman Nahe Null 2011 von Serebrennikow inszeniert worden war. Vermutungen gab es aber auch, dass rechtskonservative Kreise einfach mit einer Schlüsselfigur der liberalen Kunstszene abrechnen wollten. (Herwig G. Höller, 28.6.2020)