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Demonstranten fordern eine Verlängerung der Übergangsfrist, in der sich das Vereinigte Königreich seit Ende Jänner befindet. Premier Boris Johnson sprach sich immer wieder dagegen aus, zuletzt nannte er Ende Juli als Termin.

Foto: REUTERS/Toby Melville

Beiderseits des Kanals laufen die Internetverbindungen heiß, vor Thinktanks und Parlamentsausschüssen stecken Teilnehmer und Beobachter der Brexit-Verhandlungen ihre Claims ab. Am Montag beginnt, wiederum per Zoom, eine intensive Phase neuer Besprechungen über das künftige Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien. Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick.

Frage: Wieso die neue Dringlichkeit?

Antwort: Weil die bisherigen Verhandlungen kaum etwas erbracht haben. Nach dem Ausscheiden des Vereinigten Königreiches Ende Jänner begann eine Übergangsfrist, die zu Silvester ausläuft. In dieser Zeit müssen die Briten alle EU-Vorschriften einhalten und Milliarden in die Gemeinschaftskasse einzahlen, haben aber kein Mitspracherecht mehr.

Eine Verlängerung dieses Verharrens im Schattenreich komme nicht infrage, hat Premier Boris Johnson seit seinem klaren Wahlsieg im Dezember immer wieder bekräftigt. In Brüssel hielten viele dennoch lang an dem Glauben fest, die Briten würden zum vierten Mal einen selbstgesetzten Termin verstreichen lassen. Johnsons Zoom-Treffen mit EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen vor zehn Tagen brachte Klarheit: In diesem Jahr muss es zur Einigung kommen, sonst herrscht 2021 vor allem in den Wirtschaftsbeziehungen Chaos ("No Deal").

Beim Besuch des französischen Präsidenten Emmanuel Macron in London nannte Johnson Ende Juli als Termin. Sollten die Verhandlungen bis dahin nicht vorankommen, werde sein Land die Übergangsfrist ohne jede weiterführende Vereinbarung beenden. Seither haben Signale beider Seiten das zuvor frostige Klima etwas verbessert. Nun sollen EU-Unterhändler Michel Barnier und der britische Delegationsleiter David Frost mit ihren jeweiligen Delegationen binnen fünf Wochen die schwersten Brocken aus dem Weg räumen.

Frage: Was bleibt umstritten?

Antwort: Beide Seiten nennen vor allem drei Schwierigkeiten: institutionelle Zusammenarbeit, Gleichbehandlung der Unternehmen ("level playing field", LPF) bei der Einhaltung europäischer Standards und schließlich Fischerei. Der zuständige Londoner Minister Michael Gove argumentiert, bei der Volksabstimmung 2016 sei es "um unsere Souveränität" gegangen. Deshalb komme eine auch nur teilweise Aufsicht des Europäischen Gerichtshofs über die zukünftigen Beziehungen nicht infrage. Während sich Brüssel eine Gesamtvereinbarung wünscht, wollen die Briten jeweils eigene Abkommen für einzelne Themengebiete, beispielsweise Fischerei, polizeiliche Zusammenarbeit oder den Status von Nordirland, abschließen.

Brüssel hat unter dem Druck von Fischereinationen wie Spanien und Frankreich die uneingeschränkte Fortführung der Europäischen Fischereipolitik (EFP) in britischen Gewässern zu einer Hauptforderung gemacht, nicht zuletzt mit Hinweis darauf, dass die Briten ihre eigenen Fische zu 90 Prozent in den Binnenmarkt exportieren. Hingegen verweist London auf das Brexit-Votum: Man wolle künftig wie andere Anrainer der EU behandelt werden und jährlich über Quoten verhandeln.

Frage: Wo zeichnen sich Lösungen ab?

Antwort: Bei der Nordirland-Frage herrscht derzeit Ruhe. Was LPF angeht, prüfen Barniers Leute derzeit eine im Spectator lancierte Idee aus Johnsons Umfeld. Die EU solle die britische Souveränität schriftlich anerkennen; im Gegenzug dafür würde die EU das automatische Recht erhalten, im Fall britischen Dumpings den Waren von der Insel neue Zölle aufzubrummen. Bei der Fischerei könnte eine Einigung stufenweise höhere Quoten für britische Fischer im Gegenzug für zollfreien Zugang zum Kontinent beinhalten.

Frage: Worauf hofft London?

Antwort: Wie seine konservativen Amtsvorgänger David Cameron und Theresa May scheint auch Boris Johnson auf Angela Merkel zu setzen. Die anglophile deutsche Kanzlerin übernimmt diese Woche die EU-Präsidentschaft und hat insofern auch institutionell Einfluss. Auf der gern in Großmacht-Kategorien denkenden Insel herrscht die Vorstellung, der Weg zu einer Lösung führe über Berlin statt über Brüssel. Deutsche Diplomaten und Politiker wehren sich gegen diese Idee. Priorität der kommenden sechs Monate sei eine Einigung auf das EU-Budget der nächsten sieben Jahre. Dazu gehören auch die schwierigen Einzelheiten des geplanten Corona-Hilfsfonds.

Frage: Wie gut stehen die Aussichten auf eine Einigung?

Antwort: Der Frage weichen Experten aus. Der bevorstehende Wirtschaftseinbruch durch Covid-19 – die OECD sagt Großbritannien ebenso wie Frankreich und Italien zweistellige Konjunktureinbrüche voraus – wäre Grund genug, weitere Handelsprobleme zu vermeiden. Keineswegs, fürchtet László Andor vom sozialdemokratischen Brüsseler Thinktank FEPS: "Der Covid-19-Effekt erhöht das Risiko von No Deal." Zur Begründung spricht der Ökonom von einer Unschärfe, was die Ursache der kommenden Rezession betrifft. Die Auswirkungen könnten die negativen Brexit-Folgen überlagern und der Johnson-Regierung nutzen. Tatsächlich wird dies unter Brexiteers als Argument für einen No Deal gehandelt. Dessen Kosten "würden im Vergleich zu den Corona-Schwankungen trivial ausfallen", so Julian Jessop vom Londoner Thinktank IEA. Der Ökonom und Kolumnist der Financial Times, Wolfgang Münchau, gab sich hingegen optimistisch: Es werde eine Vereinbarung geben, wenn auch beschränkt auf Güter und vielleicht die gegenseitige Anerkennung von Berufsabschlüssen. (Sebastian Borger, 29.6.2020)