Demenz ist eine Diagnose, vor der sich viele fürchten. Doch auch wenn das Gehirn krank ist, verbessert Geistestraining die Situation.

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Gedächtnistraining für demenzkranke Menschen: Memocorby bringt Beschäftigung und Erfolgserlebnisse.

Anna K. (85) strahlt. In ihrer täglichen Therapiesitzung im Pflegeheim mit dem neuen Trainingsinstrument hat sie die Frage "Das Wandern ist des Müllers …?" richtig mit "Lust" beantwortet, indem sie den Quader mit der richtigen Antwort anhob, der jetzt zur Bestätigung blinkt. Sie versucht es gleich noch einmal, nachdem der integrierte Sprachassistent sie zuerst gelobt und dann ermuntert hat weiterzumachen.

Memocorby heißt das Trainingsinstrument, ein E-Learning-Tool für demenzkranke Menschen, das dabei hilft, die kognitiven Fähigkeiten zu erhalten. Es sind fünf Kunststoffquader mit kleinen Bildschirmen, die an große Bauklötze aus Kindertagen erinnern, einem Tablet mit Sprachassistent und Induktionsplatten zum Laden. Das Therapieset ist kein Spielzeug, aber es weckt Erinnerungen an vertraute, im Gehirn gespeicherte Abläufe, die sämtliche Sinne ansprechen: Sehen, Hören und Fühlen. Etwas hochzuheben lernt man in frühester Kindheit. Memocorby ist ein Trainingstool, das nach einem Schlaganfall, einem Schädel-Hirn-Trauma oder bei Demenzpatienten eingesetzt werden soll.

Es geht um Erfolgserlebnisse

"Es ist so berührend, die Gesichter zu sehen, wenn Patienten Aufgaben korrekt gelöst haben. Sie freuen sich wie kleine Kinder", sagt Memocorby-Erfinderin Elisabeth Dokalik-Jonak. Der Mensch trainiere sein Gedächtnis lebenslang, vom Baby bis zum Greis, präventiv oder nach Unfällen. Die Memocorby-Erfinderin ist gelernte Pädagogin. Aus ihren Beobachtungen in Schulen weiß sie, dass das Haptische durch Tippen und Wischen immer weniger bzw. die Bewegungen einseitiger werden.

Kurzentschlossen machte sie sich auf die Suche nach einem Lernbehelf. Das technische Interesse bekam sie in die Wiege gelegt: "Mein Vater, er ist Techniker, half mir, Mikrofone in Holzklötzen zu verbauen. Ich beklebte die Kistchen mit Obstbildern und installierte zusätzlich ein Dialogsystem. Das Experiment war erfolgreich", erinnert sich Dokalik-Jonak. Sie beschäftigte sich mit dem Prinzip "Lernen durch spielen", das sich auf Frage-und-Antwort-Strategien oder Simulationen bezog.

Lebenslang lernen

Gerade im höheren Alter helfe das System den Menschen, sich wieder auszudrücken, weil lebensnotwendiges Vokabular eingesetzt werden könne. "Das demenzkranke Gehirn kann bis zum Schluss lernen. Man muss nur wissen, wie man es dazu bekommt", so Dokalik-Jonak. Das zeigt auch der Therapieverlauf bei Anna, denn ihre nächste Frage, einen Hinweisreiz, "Rote Lippen soll man …?", beantwortet sie prompt mit "küssen". Sie blickt auf, ein verschmitztes Lächeln huscht ihr über das Gesicht. Ihre Wangen werden ein bisschen rot.

"Neurowissenschaftliche Studien belegen, dass durch gleichzeitige Stimulation des Gehirns mit auditiven, haptischen und visuellen Reizen gute Lernerfolge erzielt werden", erklärt Dokalik-Jonak. "Was wir mit den Sinnen Hören, Fühlen und Sehen wahrnehmen, hilft dem Gedächtnis auf die Sprünge, schafft neuronale Verbindungen und steigert die Merkfähigkeit."

Auf den Klötzen können Bilder, Wörter und künftig auch Videos dargestellt werden. Sie sind abwasch- und mit Desinfektionsmittel behandelbar und stellen somit kein hygienisches Risiko dar. Einzig die Sitzhöhe für Patienten muss beachtet werden, denn die Bilder oder Worte sollen gut erkennbar und die Würfel leicht zu heben sein. Die Daten können auch ausgewertet werden, sodass sowohl der Genesungs- als auch der Übungsverlauf dokumentiert wird. Das kann Ärzten sowie dem Pflegepersonal in der Diagnostik und bei weiteren Therapiemaßnahmen helfen.

Alles sehr intuitiv

"Anfängliche Berührungsängste verfliegen schnell, denn vor robusten, bunten Quadern mit rauer Oberfläche fürchten sich die Menschen meist weniger als davor, bei einem Endgerät durch Wischen etwas falsch zu machen", erklärt die Erfinderin. "Die Programme sind mannigfaltig gestaltbar, als Hinweisreiz, als Quiz, als Vokabeltest oder als Mathematikspiel." Im robusten, barrierefreien Spielsatz steckt zusätzlich das Potenzial eines Unterrichtsinstruments.

Anna sitzt auch nach einer halben Stunde noch konzentriert und begeistert am Tisch und beantwortet Frage um Frage. Nichts bringt sie aus der Ruhe, nichts lenkt sie ab. Manchmal klatscht sie vergnügt in die Hände, Minuten später runzelt sich ihre faltige Stirn. Als die Pflegerin ihr sagt, dass die Therapiezeit um ist, schaut sie verdutzt auf. Die Zeit scheint verflogen zu sein, das Gedächtnistraining hat ihr offensichtlich Freude bereitet. Die Pflegerin beginnt die Klötze mit einer Desinfektionslösung abzuwischen und sagt in tröstendem Ton: "In der nächsten Therapiestunde gibt es dafür ein ganz neues Quiz für Sie." (Ulrike Schöflinger, 2.7.2020)