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Anne Weber, epische Dichterin und bewährte Übersetzerin aus dem Französischen: Zeit für neue Perspektiven auf das Heldentum.

Foto: Lipus/picturedesk.com

Zur Welt kommt Annette Beaumanoir am Ende einer "Reihe unverputzter Fischerhäuschen". Von vornherein bestimmt wenig die heute 97-jährige Bretonin dazu, als strahlende "Heldin" in die Annalen der "Grande Nation" einzugehen. Es sei denn, man rechnet Zivilcourage und Tendenzen zu anti-bourgeoiser Unbedenklichkeit zu den unumgänglichen Attributen einer Heroine. Von "Annette", dieser beinahe luftigen Heldin eines Epos, lässt sich immerhin sagen: Sie widersteht jedem Anflug von Konformismus. Sie verpflichtet sich vielmehr zum unsteten Leben einer Aktivistin in der Résistance.

Sie treibt durch das zerrissene Frankreich und stolpert 15 Jahre später in die Wirren des Algerienkrieges. Sie wird dabei von keinem anderen Kompass geleitet als einem sittlich verpflichtenden Gleichgewichtsgefühl. Sie handelt, weil irgendjemand solche Sachen tun muss: z.B. algerische Freiheitskämpfer unterstützen, ohne dafür hochtrabende ideologische Begründungen ins Treffen zu führen.

Aber ausgerechnet um das Unterlaufen gängiger Heldenklischees geht es der französisch-deutschen Autorin Anne Weber in ihrem Epos "Annette". Gebunden ist die Rede dieses poetisch dichten, annähernd romanlangen Textes, ohne dass dieser jemals ruhmredig wirkt, aufgeblasen oder eine dicke Lippe riskierend. Kein Prahlhans erzählt hier im weit schwingenden "vers libre"; eher schon darf sich die Leserin dazu aufgerufen fühlen, die eigenen Hypothesen mit denjenigen der (real existierenden) Figur abzugleichen. Vor Toten und Terror, heißt es einmal, verschließe man vorsorglich die Augen. Eher schon steuert der weibliche Unruhegeist "auf einen Ort zu, den es gar nicht gibt / und auch nie geben wird (...)".

Scheu vor Selbstüberhöhung

Nun ist die Poesie als von vornherein komplex organisierte Sprachform ohnedies klüger als jedes noch so innige Bekenntnis zur reinen Menschenliebe. Anne Webers famoses Sehr-Langgedicht fällt seiner Protagonistin nicht unbedingt ins Wort. Es feit sie nur vor störenden Anwandlungen von Selbstüberhöhung: "Halbherzig / fängt sie in Rennes ein Studium an, und zwar / der Medizin, während sie ganzherzig von einem / Schicksal träumt, von Opfern und von Heldentaten."

Der weibliche Name des Widerstandes heißt: Untertauchen. Während die Beaumanoir alle bürgerlichen Sicherheiten opfert und sich auf schwankendem Existenzgrund eher kopflos in Nordafrika wiederfindet, schreiben die Männer unterdessen die offizielle Geschichte. Die alten, ehrwürdigen Ideologien verfangen heute nicht mehr. Aber das emanzipatorische Projekt geht weiter: Mindestens im nachhinein soll das nach bürgerlichen Maßstäben "verpfuschte" Leben seine fortschrittlichen Anliegen preisgeben.

Der unbändige "Zorn", der ein Musterepos wie Homers "Ilias" zusammenhält, darf verrauchen. Insofern ist Anne Webers tastende Heldinnen-Bio ein Buch der Stunde. Man muss sich eine weitgehend anonym gebliebene Heldin wie Annette Beaumanoir als Schwester von Sisyphos vorstellen, also als glücklichen Menschen.

Und so wird man mit Blick auf eine andere, jüngere Autorin überraschender Echowirkungen gewahr. Eine andere Ann, Nachnamen Cotten, veröffentlichte vor rund vier Jahren bereits einmal ein Heldinnenopus mit Titel "Verbannt!" (Suhrkamp). In einer Flut von Langstrophen ereignete sich darin die Notevakuierung einer jungen Frau aus den Gefilden der hetero-normativen Wirklichkeit.

Cottens "Heldin" strandete damals traditionsgerecht auf einer Insel: Nahm unfreiwillig Urlaub vom Patriarchat unter Palmen. Doch viel wichtiger als der Irrwitz der "Handlung" schien die zugrunde liegende Praxis. In platten Reimen wurde dem männlich codierten Weltgeist von Cotten der Garaus gemacht. Bezeichnender Name der von einer "Schraubenreligion" dominierten Insel: "Hegelland". Ann Cotten veranstaltete einen pan-sexuellen Karneval. Poesie, so lehrte ihr Versuch, ist vorzüglich geeignet, allzu männliche Spuren der Überlieferung zu verwischen. Was es dazu braucht? Einen gelenkigen Versfuß. (Ronald Pohl, 30.6.2020)