Ministerriege mit Kanzler am 30. März, Tag nach der Verkündung weiterer Corona-Lockdown-Schritte. Von Links: Innenminister Karl Nehammer (ÖVP), Vizekanzler Werner Kogler (Grüne), Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne).

foto: apa/schlager

Wien – Als das Coronavirus vergangenen Dezember in China epidemisch ausbrach, sei es von Österreichs Politikern und den meisten Experten wenig ernst genommen worden. Als sich das Infektionsgeschehen dann nach Europa verlagert hatte und sich die Seuche in der Lombardei zur "Freak-Wave" aufbäumte, habe man hingegen radikal und richtig reagiert. Die Maßnahmen, um direkte Kontakte auf allen gesellschaftlichen Ebene einzuschränken, seien alternativlos gewesen.

Dann jedoch, zwei Wochen später, sei die Sache aus dem Ruder gelaufen. Statt erste Exit-Schritte aus dem Lockdown zu überlegen, wie es einer Mehrheitsmeinung von Experten aus der Coronavirus-Taskforce des Gesundheitsministeriums entsprochen habe, seien die Social-Distancing-Regeln nochmals drastisch verschärft worden: Maskenpflicht und Angstparolen von Kanzler Sebastian Kurz statt kalmierender Aufklärung – dabei habe sich das tägliche Infektionsplus schon damals stark eingebremst gehabt, von 30 Prozent Ende März auf zwölf Prozent.

Kompakte journalistische Kost

So weit die Kernaussage von zwei in diesen Tagen erscheinenden Büchern, die – beide in Form einer Chronologie – einen ersten kritischen Rückblick auf die frühen Corona-Monate in Österreich wagen. Das eine, verfasst von einer Autorengruppe rund um den Chefredakteur der Rechercheplattform "Addendum", Michael Fleischhacker, liefert kompakte journalistische Kost.

Es bietet viel Hintergrundinformation, etwa über die desorganisierten Zustände im Gesundheitsministerium nach dem türkis-blauen Umbau. Auch die für die Lockdown-Fortsetzung vielleicht relevanten Verflechtungen von Kurz-Vertrauten mit der Strategieberatung Boston Consulting Group sind interessant.

Sprengers Tagebuch

Das andere Buch, veröffentlicht von dem vorzeitig aus der Gesundheitsministeriums-Taskforce ausgeschiedenen Mediziner und Public-Health-Experten Martin Sprenger, ist persönlicher. Es fasst dessen redigierte Tagebucheintragungen aus den dramatischen Wochen zusammen. In diesen befleißigt sich Sprenger eines dem Public-Health-Ansatz entsprechenden soziologischen Blicks auf die Folgen des Lockdowns in der Gesellschaft.

Ihre zerstörerischen Auswirkungen, von Vereinsamung hin zu Existenzzerstörung, könnten den Verlust an Lebensjahren durch das Virus um einiges übertreffen, schreibt er. Im Expertenrat war er mit dieser wichtigen Sichtweise offenbar ziemlich allein.

Frustrierende Verschärfung

Entsprechend frustriert reagierte der Tiroler am 30. März, als Kanzler Kurz sein Worst-Case-Szenario mit bis zu 100.000 Toten verkündete und weitere Verschärfungen dekretierte. Ob jedoch zu diesem Zeitpunkt wirklich eine Mehrheit von Taskforce-Experten Lockerungen das Wort redete, kann bezweifelt werden. Dem Protokoll zumindest ist das nicht zu entnehmen. (Irene Brickner, 29.6.2020)