Als die Abnahme der Corona-Infektionen Ende März begann, wurde Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) noch einmal drastisch. Wenig später wurde über Geschäftsöffnungen diskutiert.

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Ende März sagte Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) den Satz: "Bald wird jeder von uns jemanden kennen, der an Corona gestorben ist." Das empfand die Opposition als überzogen. Die Infektionszahlen begannen zu sinken. Die Experten im Corona-Krisenstab von Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) schienen die Situation auch nicht ganz so drastisch einzuschätzen wie der Kanzler.

Dies legt zumindest ein Teil der bisher geheimen Mitschriften der Taskforce nahe, die das Ressort am Wochenende veröffentlichte. Sie geben Einblick in die Einschätzungen von 18 Experten, etwa von Ages-Chef Franz Allerberger, Simulationsexperte Niki Popper, Ärztekammer-Präsident Thomas Szekeres oder dem Virologen Heinz Burgmann. Einsehbar sind anonymisierte Mitschriften von vorerst elf Sitzungen im Zeitraum von 28. Februar bis 9. April.

Am 30. März jedenfalls, als Kurz die bekannten Worte sagte und die türkis-grüne Regierung am selben Tag eine Maskenpflicht für Supermärkte und Co anordnete, traf sich abends Anschobers Krisenstab zu einer Videokonferenz.

Zwei gegensätzliche Prognosen

Für den Minister war wegen der sinkenden Wachstumsrate "ein leicht vorsichtiger Positivtrend zu erkennen". Das Wachstum bei Todesfällen, Hospitalisierungen und den Intensivpatienten erschien ihm aber zu hoch.

Auch ein Experte glaubte an eine gute Entwicklung. Intensivstationen wurden aber zur "Variablen in den nächsten zwei bis drei Wochen" erklärt, unter Kollegen eines Experten herrschte hier "sehr große Anspannung". Der "Schlüsselfaktor" für ein Stabsmitglied waren die Seniorenheime wegen der hohen Positivfälle. Ein weiterer Experte meinte, dass in diesem Fall gar "Österreich zu Italien werden kann." Eine Überforderung der gesamten Bettenkapazität konnten die Experten nicht ausmachen. Anschober hatte zwei Prognosepapiere mitgebracht. Das eine sah die Kapazität gesichert. Das andere kam zu dem Schluss, "dass man längerfristig dramatisch nachbessern müsse".

Die zu Beginn der Corona-Krise befürchtete "Kernschmelze" des Gesundheitssystems, wie es ein Experte ausdrückte, trat nicht ein. Bereits in der folgenden Sitzung am 6. April gab es mehr Neugenesene als Neuerkrankte zu verkünden, der Stab diskutierte schon über die Öffnung der Bundesgärten und der übrigen Geschäfte.

Die Mitschriften zeigen aber, dass es vor dem Lockdown am 16. März auch im Stab Bedenken gab, wie lange das Gesundheitssystem durchhält. Ein Mitglied meinte, dass es "rasch in den Knien" sei, wenn es weiter so bedient werde.

Corona-Zahlen steigen wieder

In jener Sitzung soll der Kanzler gesagt haben, "dass Menschen vor einer Ansteckung Angst haben sollen, Angst davor, dass Eltern und Großeltern sterben". Hingegen solle der Bevölkerung die Angst vor Lebensmittelknappheit, Stromausfällen genommen werden. "Als Alarmzeichen-Emotion hat Angst durchaus auch positive Aspekte", sagt Anschober in einer Anfragebeantwortung an Neos-Sozialsprecher Gerald Loacker.

Interessant ist auch, dass der Krisenstab in der Sitzung am Tag vor dem Lockdown schon über Lockerungen etwa nach Ostern sprach. Die Schulschließung Mitte März wiederum wurde von einem Experten zuvor als problematisch bezeichnet. "Wichtig wäre, die Kinder von den Großeltern möglichst fernzuhalten", erklärte er. Über die Lockerungen für Maturanten und Volksschulen dachte die Corona-Taskforce zwar bereits am 9. April nach, wirklich so weit war es aber erst am 4. und 18. Mai.

Inzwischen steigen die Corona-Infektionszahlen aber wieder. 600 Personen gelten als erkrankt. Das sind 49 mehr als am Sonntag und 124 mehr als am Freitag. 74 Menschen werden in Spitälern behandelt. Mehr als 17.600 Personen wurden in Österreich bisher Corona-positiv getestet. (Jan Michael Marchart, 30.6.2020)